Joe Biden scheint die Kraft zu fehlen, um Donald Trump im November zu schlagen. Die naheliegendste Alternative wäre seine Vizepräsidentin Kamala Harris. Aber auch sie kann die Wähler bisher kaum begeistern.
Kamala Harris gilt seit ihrer Amtsübernahme als Sorgenkind des amerikanischen Präsidenten. Bis zuletzt diskutierten die Medien regelmässig die Frage, ob Joe Biden seine Stellvertreterin nicht mit einer talentierteren Politikerin ersetzen sollte. Im Februar bezeichnete etwa der Kolumnist George Will in der «Washington Post» die Vizepräsidentin als Bidens «folgenreichsten Fehler».
Nach Bidens missratenem Fernsehduell mit Donald Trump vergangene Woche stellt sich eine ganz andere Frage: Wer könnte den altersschwachen Präsidenten im Rennen um das Weisse Haus ersetzen? Angesichts der kurzen Zeit bis zum Demokratischen Parteitag im August sprechen mehrere Gründe für Harris als die naheliegendste Alternative: Sie steht seit vier Jahren im nationalen Rampenlicht. Sie wurde von ihren politischen Gegnern bereits durchleuchtet. Die Wähler kennen ihre Stärken und Schwächen. Die 59-jährige Politikerin ist zudem Teil der «Biden-Harris»-Kampagne und könnte die Wahlkampforganisation mit ihren gut gefüllten Kassen ohne grossen Reibungsverlust weiterführen.
Meisterin der «Wortsalate»
Der Demokrat und ehemalige Kongressabgeordnete Tim Ryan forderte Biden am Montag deshalb auf, das Zepter schnell an Harris zu übergeben. Die Vizepräsidentin könne vor allem junge sowie schwarze, braune und asiatische Wähler mobilisieren, meinte Ryan. Harris habe dies mit ihren «meisterhaften» Auftritten nach Bidens misslungener Debatte bewiesen. In Fernsehinterviews und bei einem Wahlkampfauftritt in Nevada verteidigte Harris den Präsidenten mit scharfen und leidenschaftlichen Worten.
Für mitreissende Reden war die Vizepräsidentin bisher allerdings nicht bekannt. Im Gegenteil. Vor allem konservative Medien, aber auch Satiresendungen machen sich gerne über ihre bedeutungsarmen «Wortsalate» und ihr gelegentlich befremdliches Lachen lustig. «Es ist an der Zeit für uns, zu tun, was wir getan haben, und diese Zeit ist jeden Tag», ist eine ihrer bekanntesten Plattitüden. Am Tag nach Bidens missratenem Fernsehduell zeigte Harris jedoch eine andere Seite. In Las Vegas hielt sie vor ihren Anhängern eine kämpferische und eingängige Rede.
Bei der Wahl im November stelle sich für alle eine Frage, holte sie aus: «In was für einem Land wollen wir leben? In einem Land der Freiheit, des Mitgefühls und der Rechtsstaatlichkeit oder einem Land des Chaos, der Angst und des Hasses?» Unter dem lauten Beifall des Publikums stellte Harris gekonnt rhetorische Folgefragen: «Glauben wir an die Freiheit? Glauben wir an unsere Möglichkeiten? Glauben wir an das Versprechen Amerikas? Und sind wir bereit, dafür zu kämpfen?» Ihre Antwort schob sie gleich nach: «Wenn wir kämpfen, dann gewinnen wir.»
Auch eine jüngste Umfrage des Fernsehsenders CNN gibt Harris neuen Auftrieb. Demnach würde Biden die Wahl gegen Trump – fände sie heute statt – mit 43 zu 49 Prozent der Stimmen verlieren. Harris liegt hingegen momentan nur mit 45 zu 47 Prozent hinter Trump zurück. Vor allem unter Frauen und Wechselwählern gewinnt die Vizepräsidentin höhere Anteile als Biden. Unter dem Strich kann zurzeit jedoch auch Harris nicht mit Trump mithalten. Die einzige Demokratin, die den republikanischen Kandidaten in Umfragen derzeit überflügelt, ist Michelle Obama. Aber die ehemalige First Lady hat politische Ambitionen bisher stets ausgeschlossen.
Die Vizepräsidentin mag vielleicht die naheliegendste Alternative sein, aber ist sie auch die beste? Selbst unter den Demokraten gibt es Zweifel. Um diese auszuräumen, hat James Zogby – ein Mitglied des Nationalen Parteikomitees – die Durchführung eines kompetitiven Wahlverfahrens mit einem begrenzten Teilnehmerfeld und Fernsehdebatten vorgeschlagen. Der demokratische Präsidentschaftskandidat würde letztlich am Parteitag im August von den knapp 5000 Delegierten gewählt. Ein solch offener Prozess sei auch für Harris besser als eine simple «Krönungszeremonie», erklärte Zogby diese Woche in einem Fernsehinterview. Die Vizepräsidentin könne sich dabei beweisen.
Eine Kandidatin mit unklaren Überzeugungen
Die Zweifel an Harris gehen vor allem auf ihren eigenen Präsidentschaftswahlkampf 2020, die Umstände ihrer Nominierung durch Biden und ihre unglücklichen zwei ersten Amtsjahre zurück. Die Tochter einer indischen Krebsforscherin und eines jamaicanischen Wirtschaftsprofessors gelangte auf einem steilen Weg nach Washington. Als erste dunkelhäutige Frau wurde sie 2003 in San Francisco zur Bezirksstaatsanwältin und 2010 zur kalifornischen Justizministerin gewählt. Als zweite schwarze Frau schaffte sie 2016 den Einzug in den amerikanischen Senat. Dort machte sie sich bei Anhörungen einen Namen als hartnäckige Befragerin. Als sie etwa Trumps Justizminister Jeff Sessions zur Russland-Affäre in die Mangel nahm, meinte dieser: «Ich kann mich nicht so hetzen lassen. Das macht mich nervös.»
Nach nur kurzer Zeit in Washington stieg Harris 2019 ins Rennen um die Präsidentschaft. Die Erwartungen an sie waren hoch. Die Medien sahen in ihr den «weiblichen Obama». Doch bereits vor dem Beginn der demokratischen Vorwahlen musste sie ihre Kampagne beenden – zu tief waren ihre Umfragewerte und zu gering die Spendeneinnahmen. Ihre Mitarbeiter beschwerten sich über einen schlechten Führungsstil, eine fehlende Strategie und eine wechselhafte politische Positionierung. Gestützt auf Interviews mit Leuten aus ihrem Umfeld schrieb die «New York Times» damals über Harris: «Sie ist eine Kandidatin, die sich Input von einem ganzen Stall von Beratern holt, aber ihre eigenen politischen Überzeugungen können unklar sein.»
Trotz diesem Scheitern machte Biden die kalifornische Politikerin zu seiner Vizepräsidentin. Eine Rolle soll dabei auch ihre Freundschaft mit Beau Biden, dem Lieblingssohn des Präsidenten, gespielt haben. Beau Biden, der 2015 an Krebs verstarb, war Justizminister in Delaware, als Harris dasselbe Amt in Kalifornien ausübte.
Neben ihrer Erfahrung in Wahlkämpfen und Fernsehdebatten waren für Biden aber vermutlich auch ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe wichtige Faktoren. Der Präsident sei zur Überzeugung gekommen, dass er eine schwarze Frau auswählen sollte, erklärte Harry Reid, der frühere Mehrheitsführer im Senat, gegenüber der «New York Times». Die schwarzen Frauen seien die treusten Wähler der Demokraten. Sie hätten deshalb eine schwarze Vizepräsidentin verdient.
Doch der Start ins neue Amt misslang. Zum einen lag dies an einer ungewöhnlichen Konstellation. In der Vergangenheit kamen die Präsidenten oft als Outsider nach Washington, nicht selten von Gouverneursposten. Sie nahmen sich Vizepräsidenten zur Seite, die sich im Politbetrieb der Hauptstadt auskannten. Harris konnte Biden in dieser Hinsicht jedoch wenig behilflich sein. Der langjährige Senator brauchte sie nicht, um im Kongress die richtigen Strippen zu ziehen.
Harris fiel schliesslich die undankbare Aufgabe zu, sich um den wachsenden Zustrom von Migranten über die mexikanische Grenze zu kümmern. Sie wollte das Problem bei den Wurzeln in den Herkunftsländern angehen – ein Vorhaben, das keine schnellen Erfolge zeitigen konnte. Schnell machten sich die Republikaner über Bidens überforderte «Grenz-Zarin» lustig.
Gleichzeitig traten erneut Fragen über den Führungsstil der Vizepräsidentin auf. Immer wieder sickerten Berichte über ein «toxisches Arbeitsklima» unter Harris an die Presse durch. Bereits am Ende ihres ersten Amtsjahres verliessen mehrere Mitarbeiter ihr Team.
Das Recht auf Abtreibung verleiht Flügel
Erst als der Supreme Court im Juni 2022 das verfassungsmässige Recht auf Abtreibung kippte, fand Harris ihre Aufgabe. Der Kampf für das Recht auf Abtreibung scheint die Vizepräsidentin und Mutter zweier Stieftöchter zu beflügeln. Bei ihren Wahlkampfauftritten nahm sie Donald Trump direkt ins Visier. Der ehemalige Präsident hatte in seiner ersten Amtszeit drei konservative Richter für den Supreme Court nominiert, die das Urteil im Juni 2022 erst ermöglichten. Er sei «stolz» auf diese Leistung, sagt Trump heute. Nun fragte Harris kürzlich bei einem Auftritt in Wisconsin: «Stolz darauf, dass Frauen im ganzen Land leiden? Stolz darauf, dass junge Frauen weniger Rechte haben als ihre Mütter und Grossmütter? Wie kann er (Trump) es wagen?»
Für ihre neue Angriffslust erntete Harris zuletzt positive Schlagzeilen: Sie sei eine «unterschätzte Stütze» für Joe Biden, schrieb etwa die «Washington Post» im Februar. Die oft kritisierte Vizepräsidentin sei im Wahlkampf in eine Hauptrolle geschlüpft und erreiche Zielgruppen, die der Präsident zu verlieren drohe, beobachtete die Nachrichtenagentur Reuters.
Harris hat sich für Biden von einer unsicheren zu einer soliden Ergänzungsspielerin entwickelt. Aber reicht ihr Potenzial auch aus, um in einem Präsidentschaftswahlkampf nicht nur eine Hauptrolle, sondern die grosse Hauptrolle zu übernehmen? Die Angriffe der Republikaner auf sie haben bereits begonnen. In einer neuen «attack ad» wird sie als «Bidens Gehilfin» und «Architektin der Migrationskrise» bezeichnet. In einem an die Medien durchgesickerten Video zieht Trump über die Vizepräsidentin her: «Sie ist so schlecht. Sie ist so erbärmlich. Sie ist so verdammt schlecht.»
Entscheidend für Harris dürfte sein, ob sie einen Rat ihrer Mutter umsetzen kann. Diese soll ihrer Tochter stets gesagt haben: «Lass dir von den Leuten nicht sagen, wer du bist. Sag ihnen, wer du bist.» Trotzdem falle es Harris bis heute schwer, den Wählern ihre eigene Geschichte zu erzählen und ihre politische Vision in prägenden Worten zu definieren, schrieb der «Atlantic» im November in einem langen Porträt. Ihr Aufstieg zur ersten schwarzen Vizepräsidentin ist eine bemerkenswerte Geschichte. Harris müsste ihre Rolle in diesem American Dream nur überzeugender spielen.







