Netzaktivisten stellten Alterskontrollen im Internet bisher als unverhältnismässig starken Einschnitt in die Privatsphäre dar. Ein französischer Professor zeigt: Es ginge auch anders. Doch die Politik hört nicht hin.
«Wissen das eure Eltern?», fragte der Sexualpädagoge Bruno Wermuth eine Gruppe 12-jähriger Knaben, als sie ihm mitteilten, sie würden ab und zu pornografische Videos aufrufen. «Bist du wahnsinnig?», antwortete einer der Jungen. «Die meinen, wir schauen noch Pingu!»
Das Internet hat den Zugang zu Sexfilmen kinderleicht gemacht. Dies kritisieren Politikerinnen und Politiker aus der EU und der Schweiz schon seit Jahren. Zwar haben grosse Plattformen wie Pornhub oder Stripchat inzwischen Warnhinweise und Alterskontrollen, doch diese können mit einem einzelnen Fingertipp weggeklickt werden.
Laut jüngsten Befragungen hat eines von fünf Kindern unter 14 Jahren schon Sexvideos aufgerufen. In der Schweiz ist es zwar verboten, Kindern unter 16 Pornografie zugänglich zu machen. In dieser Altersgruppe geben aber 44 Prozent der Jugendlichen an, schon pornografische Videos gesehen zu haben. In Deutschland liegt die Altersgrenze bei 18. Bis zur Volljährigkeit hat eine deutliche Mehrheit der Jugendlichen schon Pornografie konsumiert.
Nun macht die Europäische Union Druck: Sie hat die Seiten Pornhub, XVideos und Stripchat als «sehr grosse Plattformen» eingestuft und damit strengerer Regulierung unterworfen. Das bedeutet: Die Firmen müssen nun ein glaubwürdiges System für die Alterskontrolle einführen, sonst drohen saftige Bussen.
Auch die Schweiz hat ein neues Gesetz zum Jugendschutz erlassen. Nachdem das Referendum dagegen gescheitert ist, tritt das Gesetz Anfang 2025 in Kraft. Damit ist es auch in der Schweiz nur noch eine Frage der Zeit, bis Alterskontrollen im Internet eingeführt werden.
Kinderschutz ginge auch ohne zusätzliche Überwachung
Privatsphäre-Experten und Netzaktivisten sind skeptisch. Sie befürchten, dass Internetnutzer künftig noch mehr Daten von sich preisgeben müssen, als sie das heute schon tun. «Systeme für die Altersverifizierung sind Systeme zur Überwachung», schreibt beispielsweise die Electronic Frontier Foundation.
Tatsächlich sind bisherige Formen der Alterskontrolle wie das Hochladen der ID oder der Kreditkarte schlecht vereinbar mit dem Gedanken, dass die Anonymität im Internet so weit wie möglich aufrechterhalten werden soll. Deshalb geht nun die Suche nach einem besseren System los, einem, das Kinder gegen Pornografie abschirmt, ohne gleich die Freiheit im Internet mit abzuschaffen.
Eine Idee dafür hatte Olivier Blazy. Der Professor für Cybersicherheit an der Pariser Universität École polytechnique hat ein System entwickelt, mit dem sich die Volljährigkeit nachweisen lässt, ohne dass ein Nutzer seine Identität preisgibt. Es funktioniert so:
Damit kommunizieren die Pornografie-Webseite und der zentrale Akteur nie direkt miteinander. Die Verbindung läuft immer über den Nutzer (Bob). Weil die Anfrage keinerlei Hinweis darauf enthält, wer sie ausstellt, erfährt der zentrale Akteur nicht, ob Bob gerade eine Pornografie-Webseite oder ein Online-Casino aufruft, sich bei einem sozialen Netzwerk mit Alterslimiten anmeldet oder im Internet Alkohol einkauft.
Als zentraler Akteur eignet sich idealerweise eine Organisation, die sowieso schon Informationen über den Nutzer gespeichert hat, also zum Beispiel seine Bank oder sein Telecom-Dienstleister.
Laut Blazy bestehen die technische Programmierung und die Kryptografie hinter dem System bereits, es fehlt einzig noch eine benutzerfreundliche Oberfläche.
Netzaktivisten äussern sich im Grundsatz zustimmend
Bei Netzaktivisten kommt das Konzept gut an – auch bei solchen, die sich bisher kritisch über Alterskontrollen im Internet geäussert haben. «Dies scheint in die richtige Richtung zu gehen», schreibt Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, auf Anfrage, auch wenn er vor Schwierigkeiten bei der Implementierung warnt. Auch Angela Müller, Geschäftsleiterin von Algorithm Watch Schweiz, findet Blazys Idee «vielversprechend».
Eine technische Schwachstelle sieht Wouter Lueks, Forscher zu Privatsphäre und Cybersicherheit am Cispa Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit in Saarbrücken, der das System für die NZZ auf seine Sicherheit analysiert hat. «Das System ist darauf angelegt, dass die Webseite – also zum Beispiel Pornhub – und die Zentrale – also zum Beispiel die Bank – nicht miteinander kooperieren. Legen die Parteien ihre Daten zusammen, könnten sie über einen kryptografischen Link herausfinden, welche Person auf welche Webseite geklickt hat», sagt Lueks.
Ein solches Szenario ergäbe sich auch, falls eine oder beide Parteien gehackt würden und die Zugriffsdaten dadurch im Darknet landeten. Trotzdem findet Lueks die Idee im Grundsatz interessant, da sie unverhältnismässige Eingriffe in die Privatsphäre vermeide.
Blazy fehlt der Business-Case
Dass Blazys System aber tatsächlich eingeführt würde, schätzt Lueks als eher unwahrscheinlich ein. «Bei technischen Lösungen, die die Privatsphäre schützen, fehlt oft ein tragfähiges Geschäftsmodell – und der politische Wille, es durchzusetzen.» Lueks spricht aus eigener Erfahrung, war er doch Teil des Teams, das in den Niederlanden eine Privatsphäre schützende E-ID einführen wollte. Auch dieses Projekt blieb bisher im Prototyp-Modus stecken.
Tatsächlich gibt es keine naheliegende Form, wie Blazy mit seinem System Geld verdienen könnte. Blazy selbst bestätigt ausserdem, dass bisher der politische Wille fehlte, das System als Standard einzuführen. Und dies, obwohl in Frankreich, wo Blazy wohnt und arbeitet, die Regel für die Altersverifizierung bei Pornografie-Webseiten noch diesen Monat in Kraft tritt.
Blazy weibelt trotzdem für seine Idee, spricht darüber mit internationalen Medien, stellte sie der EU-Kommission vor und der Erga, der Vereinigung der europäischen Regulatoren für audiovisuelle Mediendienste. Damit sich ein solches System durchsetzen könnte, müsste eine Regierungsstelle – zum Beispiel die EU-Kommission – bereit sein, es als einheitlichen Standard für die Altersverifizierung einzufordern.
Doch noch deutet nichts darauf hin, dass europäische Regulatoren dazu bereit wären. Damit bleiben Pornografiewebseiten mindestens vorerst auch für Kinder erreichbar.
Je jünger der Konsument, desto grösser die Überforderung
Der Sexualpädagoge Wermuth will das nicht dramatisieren. «In der Jugend verändert sich die Sexualität vom kindlichen Erforschen des eigenen Körpers hin zur Sexualität von Erwachsenen. Viele Teenager suchen in dieser Zeit Informationen über Sex, und manche sind auch neugierig auf Pornografie. Das entspricht ihrer normalen psychosozialen Entwicklung», sagt Wermuth, der auch als Paar- und Sexualtherapeut arbeitet.
Weiter sagt er, die Teenager würden die Rollenbilder in Pornos reflektieren und wüssten, dass sich Film und Realität oft erheblich unterschieden.
Andere Fachleute sehen das zwar anders als Wermuth und warnen dezidiert davor, dass sich der Konsum von Pornografie im zarten Alter negativ auf die Entwicklung von Teenagern auswirken könnte. Ein Konsens besteht aber unter Fachleuten: je jünger der Konsument, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er die Reize von Pornografie noch nicht angemessen verarbeiten kann. Und: Pornografie, in der Menschen physisch oder psychisch verletzt oder erniedrigt werden, hat schädliche Folgen.
Deshalb befürwortet auch Wermuth Alterskontrollen im Internet, sofern sie die Privatsphäre der Jugendlichen schützen. Gleichzeitig warnt er vor dem Irrglauben, das Problem nur mit Technik lösen zu können. Denn selbst wenn den Jungen der Zugang zu den grössten Pornoseiten künftig verwehrt bleibt, werden sie nach wie vor Sexvideos gezeigt bekommen, vielleicht von älteren Freunden, vielleicht von kleinen Webseiten, die unter dem Radar der Behörden laufen, vielleicht sogar von Bekannten, die solches Material selbst erstellen.
«Wichtiger, als Jugendliche von sexuellen Darstellungen im Internet abzuschirmen, wäre es, mit ihnen über ihre Fragen und Unsicherheiten zu reden», sagt Wermuth. Er plädiert deshalb für eine bessere Sexualaufklärung und weniger Tabus im Schulzimmer und am Familientisch.