Die Kommissionspräsidentin startet in die nächste Amtszeit. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit wird es sein, die Regeldichte zu mindern. Doch die Bürokratisierung ist bei der EU systemimmanent.
Vor fünf Jahren war der Umweltschutz Ursula von der Leyens grosses Thema. Doch seither haben sich die Gewichte verschoben. Nun spricht die am Donnerstag wiedergewählte Kommissionspräsidentin der EU lieber über die Wettbewerbsfähigkeit Europas und die ausufernde Bürokratie als über die ökologische Wende. Alle Kommissare erhalten von ihr zum Beispiel den Auftrag, die administrative Belastung, der die Unternehmen ausgesetzt sind, zu mindern. Weniger Bürokratie und Berichterstattung, dafür mehr Vertrauen – das verlangt von der Leyen in «Europe’s Choice», ihren politischen Leitlinien 2024 bis 2029.
Aber um dieses Ziel zu erreichen, braucht es mehr als einen Befehl von oben. Vonnöten ist eine andere Einstellung all jener, die an der Gesetzgebung beteiligt sind, und das sind in der EU sehr viele. Die Bürokratisierung vieler Lebensbereiche ist im Staatenbund gleichsam systemimmanent.
Die Länder betreiben Marktabschottung
Von der Leyen mag dabei die Regeldichte beklagen, doch teilweise hat sie diese selbst geschaffen. Besonders heftig beschweren sich die Unternehmen über den Green Deal, von der Leyens grosses Projekt der vergangenen fünf Jahre.
Das umfangreiche Gesetzesvorhaben hat ein hehres Ziel. Bis ins Jahr 2050 soll die EU netto klimaneutral sein. Industrie und Haushalte dürfen dann nur noch so viel Kohlendioxid und andere Treibhausgase ausstossen, wie mit technischen und natürlichen Mitteln aus der Atmosphäre absorbiert werden können.
Aber der Green Deal ist von der Leyen und den EU-Instanzen entglitten. Er enthält zu viele Vorschriften und Berichtspflichten, und das nicht selten in mehrfacher Ausführung.
Von der Leyen und die Kommission trifft dabei nicht die Hauptschuld, vielmehr liegt sie bei den Mitgliedsländern und den Parlamentariern. Zu oft können diese der Versuchung nicht widerstehen, die Gesetze, Richtlinien und Verordnungen nach ihren politischen Vorstellungen aufzublasen.
So verfolgen die Mitgliedsländer eine Hidden Agenda. Regierungen tun etwa so, als liege ihnen der Umweltschutz am Herzen, und mit der Ökologie rechtfertigen sie neue Vorschriften.
Tatsächlich geht es ihnen aber darum, Konkurrenten vom europäischen Markt auszuschliessen und heimische Firmen in eine vorteilhafte Position zu bringen. Das schadet den Konsumenten und den Entwicklungsländern, die nicht in der Lage sind, die identischen Umweltstandards wie die EU-Mitglieder einzuhalten – viel schlechter müssen sie deswegen aber nicht sein.
Aktionismus der Parlamentarier
Richtig verworren wird es, wenn das Parlament ins Spiel kommt. Das hängt mit dem Selbstverständnis der Abgeordneten und der Dynamik in den Fraktionen zusammen. Kein Sozialdemokrat kann es sich zum Beispiel leisten, in einem Ausschuss mitzuarbeiten, ohne dort «eigene» Anliegen einzubringen. Dasselbe lässt sich von grünen, christlichdemokratischen und den übrigen Abgeordneten sagen. Wer will nach einer Sitzung schon in die Fraktion zurückkehren und dort das Bekenntnis ablegen, er habe nichts angestossen?
So ufert die Gesetzgebung aus. Selbst Parlamentarier sagen, der Green Deal sei so umfassend geworden, dass sie den Überblick verloren hätten. Die 720 EU-Abgeordneten arbeiten eben auch in Silos. Der Green Deal etwa besteht aus vielen Gesetzesvorhaben: Es gibt da eine Verordnung zur Entwaldung, ein Gesetz zur Lieferkette oder eines zur Renaturierung. Jeweils verschiedene Parlamentarier kümmern sich darum in langwierigen Entscheidungsprozessen, und sie tauschen sich viel zu wenig aus. Die Folge ist gesetzliche Doppelspurigkeit, unter der die Unternehmen nun so sehr leiden.
Nicht jede Unbill und jedes Risiko lässt sich weglegiferieren – oder nur unter Inkaufnahme riesiger Kosten. Solange sich diese Erkenntnis bei den Parlamentariern und den Ländern nicht stärker durchsetzt, werden alle Appelle von der Leyens nichts nützen. Das «Bürokratiemonster» lässt sich nicht besiegen.