Die Schweiz und ihre Grenzen: Kaum beginnen die Ferien, zieht es die Schweizerinnen und Schweizer ins deutsche Rust. Der Europa-Park mit seiner Nähe zu Frankreich und der Schweiz ist für viele ein Sehnsuchtsort. Warum?
«Der soll mal Gas geben», sagt ein 30-jähriger Mann, «wenn er weiterhin so langsam fährt, werden wir nie um 9 Uhr dort sein.» Die Stimmung im doppelstöckigen Reisebus ist angespannt. Die Leute schauen auf ihr Handy, vergleichen ihre Navigationssysteme. Geschätzte Ankunftszeit: 9 Uhr 30. Eine halbe Stunde zu spät.
Der Bus hätte pünktlich zur Türöffnung im Europa-Park ankommen sollen. Die Leute im Bus, die meisten sind junge Männer, wollten die Ersten sein, die in den Park gehen. So muss das sein, so wird die Reise beworben. Doch jetzt stockt’s.
An diesem sonnigen Mittwoch werden 25 000 Menschen den Europa-Park in Rust in Süddeutschland besuchen. Darunter viele aus der Schweiz. Jedes Jahr sind es mehr als eine Million Schweizerinnen und Schweizer, die für Achterbahnen und Abenteuer die Landesgrenze überqueren und in den beliebtesten Freizeitpark Europas fahren. Für sie ist der Europa-Park ein Ort der Sehnsucht, der Kindheit, der Alltagsflucht. Und umgekehrt hat der Europa-Park auch eine sehr innige Beziehung zur Schweiz.
Viele Schweizerinnen und Schweizer starten ihre Reise in den Europa-Park mit dem Bus, etwa mit dem Rust-Express von Eurobus. Pro Jahr fährt das Unternehmen über 50 000 Personen in den Park. Kein Busunternehmen schafft mehr. Täglich fahren sechs Busse, die an 33 Einstiegsorten in der Schweiz Leute mitnehmen.
So auch an diesem Mittwoch inmitten der Schweizer Sommerferien. Die Reise hat früh begonnen. Um 6 Uhr 30 steht der Bus neben einem Parkhaus bei der Zürcher Hardbrücke. Abfahrt ist um 7 Uhr. Ausgerüstet mit Gipfeli und kaltem Milchkaffee sitzen viele Jugendliche bereits eine halbe Stunde vorher im Bus. Es ist wie früher beim Schulausflug.
Der Duft des Europa-Parks
Als der Bus losfährt, schlafen die meisten Passagiere ein, und manche erwachen erst, als man im Bus die Verspätung bemerkt. Jetzt wird diskutiert und geflucht. Der Park öffnet um 9 Uhr, und jede Minute Verspätung ist ein grosser Verlust. Um 9 Uhr 30 parkiert der Bus auf dem Parkplatz des Europa-Parks. Noch bevor der Doppeldecker zum Stehen kommt, springen die Leute auf. Dann steigen sie aus. Und draussen ist schon das Gekreische auf den Achterbahnen zu hören.
Jetzt hinein in den Park. Es riecht nach Sonnencrème und Popcorn, nach frittiertem Essen. Der Duft des Europa-Parks an einem Sommertag.
Thorsten Marohn ist einer von drei Parkleitern im Europa-Park. Er ist eine Art Kapitän. Wenn etwas schiefläuft, muss er vor Ort Entscheidungen treffen. Marohn läuft an einem Arbeitstag gerne durch den 95 Hektaren grossen Park – das sind 133 Fussballfelder. Er beobachtet die Gäste und ihr Verhalten, beantwortet Fragen und weist den Weg. In seinem weissen Hemd mit den Sternen auf der Schulter wird schnell klar: Dieser Mann hat etwas zu sagen.
Marohns Rundgang führt zur neuesten Attraktion im Park: der «Voltron Nevera». Die «Voltron» ist eine Multi-Launch-Coaster, eine Achterbahn, die ihre Wagen wie ein Katapult auf einer geraden Strecke antreibt. Viermal beschleunigt «Voltron» auf 100 Kilometer pro Stunde. Einmal davon rückwärts. Ein Höllenritt. Die Leute lachen und schreien.
Vor der Bahn bildet sich eine riesige Menschenschlange. Die Leute stehen um 10 Uhr bereits an der prallen Sonne an, 45 Minuten lang, für eine Fahrt von drei Minuten. Darunter auch Schweizerinnen und Schweizer. «Wir sind nur wegen der neuen Bahn hier», sagt ein junger Mann. Und seine Freundin ergänzt: «Und für den Adrenalinkick.»
Marohn schätzt die Schweizer Gäste und sagt, wie wichtig sie für den Europa-Park seien. Im Europa-Park gibt es jedes Jahr am 1. August eine grosse Feier zum Nationalfeiertag. Und einmal im Jahr veranstaltet die Migros für Familien einen exklusiven Tag. An diesem Tag hat es nur Schweizer Gäste im Park. Marohn sagt: «Die vielen Schweizer Besucher lohnen sich auch wirtschaftlich.» Man mache deshalb aktiv Werbung in der Schweiz, weil sie neben Deutschland und Frankreich zu den wichtigsten Märkten gehört.
Gründerfamilie Mack liebt die Schweiz
Die Geschichte der besonderen Beziehung zwischen dem Europa-Park und der Schweiz beginnt bei der Gründerfamilie Mack und ihrer Firma für Fahrgeschäfte: Mack Rides. Die Schweiz war einer der ersten internationalen Märkte, in die das Unternehmen expandierte. Ausserdem arbeitete die Familie Mack im Europa-Park schon früh eng mit dem Schweizer Unternehmen Bolliger & Mabillard zusammen, einem der weltweit führenden Hersteller von Achterbahnen. Diese Kooperation hat unter anderem zur Entwicklung der berühmten Achterbahn «Silver Star» geführt.
Die Familie Mack liebt die Schweiz auch privat. Die Enkel des Europa-Park-Erfinders Franz Mack haben in der Schweiz studiert, in Luzern und Basel. Mittlerweile ist einer der Enkel, Michael Mack, Geschäftsführer des Parks. Er folgte auf seinen Vater Roland Mack, der immer wieder ins Wallis reist und dort viele Bekannte hat. Nach den schweren Unwettern in Gondo im Jahr 2000 lud er tausend Walliser Kinder in den Europa-Park ein. Mit Sonderzügen der SBB gelangten sie von Brig aus nach Rust. Seit 2006 ist Roland Mack Ehrenbürger der Gemeinde Chandolin im Val d’Anniviers, wo er seine Ferien verbringt.
Das Wallis, eine periphere Randregion, ist auch wegen dieser Beziehung die einzige regionale Zone des Europa-Parks. Der Europa-Park besteht aus zwanzig Themenwelten. Jede Welt repräsentiert ein europäisches Land und hat seine eigenen Attraktionen, Achterbahnen, Shows, Restaurants. Nur die Walliser haben als Einzige eine Welt: das «Walliser Dorf».
Der Parkleiter Marohn führt durch die Gassen des «Walliser Dorfes». Eröffnet wurde es 1993, als Vorlage diente das Unterwalliser Dorf Grimentz. Über dem Eingang steht «Willkommen im Wallis». Die Chalets und Stadel sind so detailliert nachgebaut, dass man meinen könnte, man sei tatsächlich im Wallis. Auch der Geruch von Raclette liegt in der Luft.
An einem Tisch vor dem Raclettestand sitzen drei Jugendliche aus dem Kanton Schwyz. Leonie, Sina und Janik. Sie fahren alle zwei Jahre in den Europa-Park, vor allem wegen der Achterbahnen und der unterschiedlichen Themenwelten. Sina zeigt auf ihr Getränk. Ein Rivella. Sie sagt: «Das gibt es nur hier.»
Heiraten und ausbrechen
Natürlich gibt es in der Schweizer Themenwelt auch Fondue und Weisswein. Und als Attraktionen die «Schweizer Bobbahn», den «Matterhorn-Blitz», den «Jungfrau-Gletscherflieger» und das «Schellen-Ursli-Haus».
Verlässt man die Schweiz und geht ein paar Schritte, ist man plötzlich in Italien. Es gibt Pizza, Pasta, Gelato und eine grosse Piazza zum Verschnaufen. Der Europa-Park ist ein grosses klischiertes Europa, das man ohne Reisestress erleben kann.
Und auch Russland hat in diesem Europa noch seinen Platz. Für Krieg, Politik und innereuropäische Konflikte hat es im Europa-Park keinen Platz. Und vielleicht ist es unterbewusst auch diese traumhafte Version eines befriedeten, schnuckeligen Europas, die jeden Tag Menschenscharen in den Europa-Park lockt.
Für manche Schweizer sei der Europa-Park – so erzählt es der Parkleiter Marohn – wie ein Wohnzimmer. Einige kommen immer wieder – und treffen dann per Zufall Bekannte aus der Schweiz. Man hält dann einen Schwatz und wünscht viel Spass.
Einige Schweizer machen ihrem Partner oder ihrer Partnerin einen Heiratsantrag im Park. Andere heiraten sogar hier. Die Zeremonien hat lange ein Schweizer durchgeführt. Ernst Heller, ein Zirkuspfarrer aus Luzern, war dreissig Jahre lang ein wichtiger Teil des Europa-Parks. Als «Clown Gottes» segnete er neue Attraktionen, veranstaltete Gottesdienste, führte Hochzeiten und Taufen in der Kirche Santa Isabel durch und kümmerte sich um die Menschen im Park. Auch die päpstliche Schweizergarde war wegen der guten Kontakte zu Ernst Heller und dem Europa-Park mehrmals auf Besuch. Heller selber ist heute pensioniert.
Um 18 Uhr 30 sitzt die Schweizer Reisegruppe wieder im Bus. Nur eine Gruppe von drei Männern im Alter von dreissig Jahren kommt zu spät. Ganze zehn Minuten. Für Schweizer Verhältnisse ist das viel, die drei Männer genieren sich beim Betreten des Busses. Sie waren auf einem «Nostalgieausflug», erzählen sie auf der Rückfahrt. Die meisten im Bus bekommen das nicht mehr mit, sie schlafen und wachen erst in Windisch oder Zürich auf.
Um 21 Uhr parkiert der Bus auf dem Parkplatz an der Zürcher Hardbrücke. Die Leute sind geschafft, aber zufrieden. Und in ein paar Stunden wird von hier schon der nächste Bus abfahren in Richtung europäisches Abenteuer.