Bei einer Mahnwache trauern in Southport zahlreiche Menschen friedlich um die erstochenen und die verletzten Kinder. Doch Rechtsextreme kapern das Gedenken.
Das Vereinigte Königreich erlebt eine merkwürdige Folge von gewalttätigen Strassenschlachten. Sie kommen wie aus dem Nichts, in unscheinbaren Städten, und enden in extremer Gewalt. Vor zehn Tagen wüteten Gewalttätige in Leeds, zündeten Autos an, steckten einen Bus in Brand, lieferten sich Prügeleien mit der Polizei – und filmten alles fasziniert mit ihren Handys.
Am Dienstag geschah etwas Ähnliches in dem nordenglischen Küstenort Southport nördlich von Liverpool. Hunderte von vermummten Schlägertypen schleuderten Backsteine auf die mit Tränengas heranrückende Polizei und setzten Fahrzeuge in Brand. Die Männer warfen Steine durch die Fenster einer Moschee und schrien: «Schluss mit den Bootsflüchtlingen, deportiert sie alle!» Dutzende Polizisten stellten sich schützend vor die Moschee. Ein Polizeifahrzeug ging in Flammen auf. Im Schutz des Chaos wurden mehrere Geschäfte in der Nachbarschaft von eindringenden Chaoten komplett ausgeplündert.
Amoklauf eines Jugendlichen
Am Ende waren 53 Polizisten und Polizistinnen verletzt, 27 von ihnen mussten in den umliegenden Krankenhäusern behandelt werden, teilweise mit Knochenbrüchen und Brandverletzungen. Premierminister Keir Starmer gelobte, dass die Straftäter belangt würden.
Auslöser war eine Messerattacke, bei der am Montagabend ein 17 Jahre alter Mann in das Jugendzentrum von Southport gestürmt war. Dort hielt eine Tanz- und Yogalehrerin gerade für 25 kleine Mädchen einen Kurs mit «Tänzen von Taylor Swift» ab. In einer Art Amoklauf stach der maskierte Täter um sich und ermordete nach Polizeiangaben drei kleine Mädchen. Acht weitere Kinder wurden zum Teil schwer verletzt, ebenso die Lehrerin und ein anderer Erwachsener.
Der Täter wird noch verhört. Die Polizei gab bekannt, dass er in Grossbritannien geboren wurde. Seine Eltern stammen laut einem Bericht der BBC aus Rwanda. Einen Terrorangriff schloss die Polizei aus. Warum der junge Mann so durchdrehte, ist bis jetzt nicht bekannt.
Russische Desinformation mobilisiert Chaoten
Dennoch kursierten in den sozialen Netzwerken sofort Gerüchte, bei dem Mann handle es sich um einen «illegalen» Bootsflüchtling mit dem Namen «Ali al-Shakati», der bereits dem Geheimdienst aufgefallen sei. Das war frei erfunden, passte aber zu dem Narrativ, dass das Land von Einwanderern «erobert» werde und dass deren Kriminalität die englische Gesellschaft in Gefahr bringe.
Laut britischen Medien wurde die Falschnachricht zuerst von der Website «Channel 3 Now» verbreitet, die sich als Nachrichtensender gibt. Dahinter sollen russische Personen stehen, die gezielt Falschnachrichten verbreiten. Die Nachricht wurde rasch auch vom russischen Staatssender Russia Today weiterverbreitet, später aber zurückgezogen.
Die Polizei gab als Reaktion sofort bekannt, dass der dort genannte Name des Täters falsch sei. Der Generalsekretär des Muslim Council of Britain (MCB) erklärte, der Fall habe nichts mit den Muslimen in der Stadt zu tun. Die Gesellschaft in Rwanda ist zu 98 Prozent christlich. Doch Warnungen von Innenministerin Yvette Cooper und der Polizei, es sollten keine Gerüchte gestreut werden, waren vergeblich.
Nationalisten nutzen das Thema
Es dauerte nicht lang, und Chaoten aus der rechtsextremen Szene des Vereinigten Königreiches marschierten in Southport auf. Der ehemalige Vorsitzende der Bewegung English Defence League, Tommy Robinson, erklärte auf X, er verstehe «den Ärger und die Wut» der «Jungs». Sie sollten aber vorsichtig sein, denn der Staat und die Medien würden die «unterdrückten Gefühle» der Engländer als Rassismus auslegen und sie hinter Gitter bringen.
Auch Nigel Farage, der Vorsitzende der nationalkonservativen Partei Reform, heizte die Stimmung an. Das Ganze zeige, wie «unglücklich» die Gesellschaft über den Zustand von Recht und Ordnung im Land sei. Der Fall, so meinte Farage, erinnere an den Mordversuch, bei dem vergangene Woche ein laut Medienberichten aus Nigeria stammender Mann festgenommen worden war. Dieser hatte einen Offizier vor der Kaserne in Chatham mit einem Messer angegriffen. «Irgendetwas wird uns verheimlicht. Und irgendetwas läuft in unserem einst so schönen Land schrecklich schief», so Farage.
Die Sticheleien wirken. Als Premierminister Starmer am Dienstag die Mahnwache für die kleinen Mädchen in Southport besuchte, musste er vor Umstehenden geschützt werden. «Wann sind unsere Kinder denn dran?», schrie ein Mann wütend. «Können Sie eigentlich gar nichts ändern?»