Irmgard F. wurde 2022 in Schleswig-Holstein wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen verurteilt. Sie erhielt zwei Jahre auf Bewährung – und ging gegen das Urteil in Revision.
Irmgard F. gehört zu jenen Personen, die während des Zweiten Weltkriegs selbst nicht gemordet, aber den Nationalsozialisten bei der systematischen Vernichtung der Juden zumindest geholfen haben. Irmgard F. arbeitete zwischen 1943 und 1945 im KZ Stutthof östlich von Danzig. Sie war Sekretärin und Stenotypistin des Lagerkommandanten. Und tippte als solche auch die Deportations- und Exekutionsbefehle ab.
Kaum vorstellbar, dass sie nicht wusste, was im Lager geschah.
Irmgard F. ist heute 99 Jahre alt, sie sitzt im Rollstuhl, lebt im Pflegeheim. Es sind mehr als siebzig Jahre vergangen, bis sie für ihre Rolle im KZ verantwortlich gemacht wurde. 2022 wurde sie vor dem Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen sowie Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen verurteilt.
Irmgard F. erhielt zwei Jahre auf Bewährung. Der Prozess fand vor der Jugendkammer statt, weil sie zur Tatzeit 18 bis 19 Jahre alt war. Ihre Anwälte gingen gegen das Urteil in Revision, weil es noch offene Rechtsfragen zu klären gebe. Am Mittwoch hat nun der Bundesgerichtshof (BGH) den Fall verhandelt. Das Urteil wird am 20. August erwartet.
Das Gericht muss abermals eine Grundsatzfrage beantworten: Wie weit reicht die Schuld derjenigen, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten als Gehilfen gearbeitet haben?
Mit Taxi aus Pflegeheim geflüchtet
Die Richter am Landgericht Itzehoe befanden 2022, dass Irmgard F. in ihrer Funktion als Sekretärin des Kommandanten entscheidend mitgeholfen habe, die Tötungsmaschinerie voranzutreiben. Sie habe «psychische Beihilfe» geleistet, der Grossteil des Schriftverkehrs sei über ihren Tisch gegangen, sie habe dem Lagerkommandanten treu und ergeben gedient, ihn in seinem Tun bestärkt. Im Konzentrationslager Stutthof wurden 65 000 Menschen getötet.
Die Verteidigung von Irmgard F. plädiert hingegen vor Gericht auf Freispruch. Als Sekretärin habe sie neutrale Handlungen ausgeführt. Die Revision begründen sie damit, dass ihrer Mandantin nicht zweifelsfrei nachgewiesen werde könne, dass sie die Verbrechen im Lager wissentlich und willentlich unterstützt habe. Der Anwalt sagte, seine Mandantin müsse freigesprochen werden, wenn es Zweifel daran gebe.
Irmgard F. selbst hatte vor dem Landgericht geschwiegen. Kurz vor Prozessbeginn hatte sie zudem zu fliehen versucht und fuhr von ihrem Pflegeheim mit einem Taxi zu einem Bahnhof. Dort wurde sie verhaftet und sagte dabei, sie werde zu Unrecht angeklagt. Am Mittwoch blieb sie der Verhandlung am Bundesgerichtshof fern.
Der BGH muss nun entscheiden, ob die Beweise für eine Verurteilung von Irmgard F. ausreichten. Es kann den Fall auch zur Neubeurteilung an das Landgericht zurückweisen oder die Frau freisprechen.
Irmgard F. ist die erste Person, die als Zivilperson in einem Konzentrationslager gearbeitet hat und sich vor Gericht verantworten muss. Bisher betrafen die Prozesse vor allem die Wachleute der Lager, die offiziell im Dienste der SS standen. Doch ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1969 hatte lange verhindert, dass die Personen auch verurteilt werden.
Oft fehlen klare Beweise
Die Richter des BGH hatten damals entschieden, dass für eine Verurteilung die wissentliche und willentliche Förderung der Mordtat deutlich nachweisbar sein müsse. Doch der Beweis für einen direkten Beitrag von Gehilfen ist im Falle der Massenvernichtung in den Konzentrationslagern schwer aufzubringen. In der Justiz galt die Kausalität zwischen den Aufgaben der Wachleute und dem Erfolg der Vernichtungsaktion als zweifelhaft. Doch das änderte sich mit dem Urteil gegen John Demjanjuk 2011.
Demjanjuk war in der Ukraine geboren, diente der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, gelangte in deutsche Kriegsgefangenschaft und arbeitete dann als Wachmann im KZ Sobibor. Das Landgericht München II verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord an 28 060 Personen. Dies, obwohl man ihm keine konkrete Handlung, wie sie der BGH für den Tatbestand gefordert hatte, nachweisen konnte.
Mit dem Urteil gegen Demjanjuk wurde es auch für andere KZ-Gehilfen ungemütlich, nachdem sie während Jahrzehnten ein normales Leben hatten führen können. 2016 nahm der BGH die neue Sichtweise auf: Die Richter bestätigten den Schuldspruch des sogenannten Buchhalters von Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen.
Prozesse für die Opfer und deren Angehörige
Inzwischen wurden mehr als ein Dutzend Verfahren gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter geführt. Bruno D. , früherer Wächter im KZ Stutthof, wurde 2020 vom Hamburger Landgericht im Alter von 93 Jahren wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Er erhielt nur zwei Jahre auf Bewährung, auch weil er zum Tatzeitpunkt erst 18 Jahre alt war. 2022 wurde Josef S., Wachmann im Lager Sachsenhausen, vor dem Landgericht Neuruppin wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Mittlerweile sind sich die Gerichte einig, dass auch Helfershelfer in den Konzentrationslagern wissentlich und willentlich an der Ermordung von Häftlingen beteiligt gewesen sein können. Und dennoch kamen viele nie vor Gericht. Die Helfer in den Konzentrationslagern sind längst gestorben oder älter als 90 Jahre. Dasselbe gilt auch für die Opfer und die Nebenkläger bei den Prozessen.
Josef S. war zum Zeitpunkt der Verurteilung 101 Jahre alt. Seine Anwälte gingen in Revision, doch Josef S. verstarb, bevor sich der BGH mit dem Fall befassen konnte. Der Prozess gegen Irmgard F. dauerte 40 Tage, auch weil sie aufgrund ihres hohen Alters nur einmal wöchentlich während zweier Stunden im Gerichtssaal sitzen musste. Der Prozess wurde wegen einer Erkrankung der Angeklagten für mehrere Wochen unterbrochen. In dieser Zeit sind mehrere der Nebenkläger gestorben.
Man fragt sich: Was bringt es noch, 100-Jährige vor Gericht zu stellen? Doch die Prozesse sind wichtig, auch wegen der Opfer, ihrer Angehörigen und der Aufarbeitung der Geschichte.
In Deutschland sind drei weitere Verfahren hängig: in Hanau, in Berlin, in Neuruppin. Doch die Beschuldigten sind zwischen 99 und 101 Jahre alt. Es ist unklar, ob die Verfahren weitergehen. Der Fall von Irmgard F. bietet dem BGH möglicherweise zum letzten Mal die Gelegenheit, die wichtige Schuldfrage zu klären.