Die 28-Jährige spielte Eishockey in der höchsten Schweizer Frauenliga und segelte mit beeinträchtigten Sportlerinnen an Weltmeisterschaften. In Marseille fährt sie in der Disziplin Formula Kite um eine Olympiamedaille. Nach fünf Wettfahrten liegt sie an der Spitze.
Nicht jede, die an den Olympischen Spielen teilnimmt, erfüllt sich damit einen Kindheitstraum. Manchmal kommt die Chance unverhofft, ist der Weg kurz und intensiv. Als die Disziplin Formula Kite 2019 ins Olympiaprogramm für 2024 aufgenommen wurde, hatte Elena Lengwiler gerade erst mit dem Kitesurfen begonnen. Nun gehört sie zu den Besten der Welt in der Disziplin, in der die Athletinnen mit Gleitschirm-ähnlichen Schirmen und auf Foilboards übers Wasser rasen.
Die Starterinnen in Marseille haben unterschiedliche sportliche Hintergründe, kommen aus dem Freestyle-Kiten oder aus dem Segeln. Bei jungen Sportarten ist die Dichte an der Spitze noch nicht so gross, was ausgenutzt wird: Der britische Segelverband etwa suchte in anderen Segelklassen nach Athletinnen und Athleten, die auf Formula Kite setzen wollten, und unterstützte sie.
Lengwiler hingegen begann aus reinem Spass mit dem Kitesurfen. Olympia spielte in ihrem Leben keine Rolle, auch nicht in den zwanzig Jahren, in denen sie bei den ZSC Lions in der Nationalliga A und B Eishockey spielte. Zwar war sie auch auf dem Eis ehrgeizig, doch das Nationalteam war kein Thema. Sie sagt: «Ich hatte im Eishockey keine Vision, habe mich nicht an den Olympischen Spielen gesehen.»
Kitesurfen war sofort ihre Sportart. Es vereint alles, was die 28-Jährige am Sport liebt: Action, Geschwindigkeit, das direkte Duell, das Wasser. Lengwiler segelte schon als Kind, ihre Grossmutter besass auf dem Bodensee ein Segelboot. Sie nahm an Weltmeisterschaften teil, zusammen mit einer Rollstuhlfahrerin für den Verein Sailability, der beeinträchtigte und gesunde Menschen im selben Boot zusammenbringt. Das Segeln machte Lengwiler Spass, «doch ich wollte immer näher ans Wasser». Windsurfen? Überzeugte sie nicht.
Erst durch ihren heutigen Mann Jonas Lengwiler entdeckte sie ihre Leidenschaft. Er ist ein ambitionierter Kitesurfer, unter anderem Weltmeister im Snowkiten. Bald jagte sie ihm auf dem Wasser nach, obwohl sie anfangs mit dem herkömmlichen Kiteboard gegen sein Foil keine Chance hatte. «Der Kampf auf dem Wasser faszinierte mich.»
Die «Eishockey-Attitüde» tut dem Schweizer Segelteam gut
Es ist einer der Gründe, weshalb ihr Aufstieg so rasant verlief. Das Kämpferische, «diese Eishockey-Attitüde», wie der Swiss-Sailing-CEO und Teamchef des olympischen Segelteams Christian Scherrer sagt, fehle sonst dem Schweizer Team ein wenig. «Elena ist prädestiniert für die Disziplin Formula Kite.» Das Rennen beginnt mit einem Massenstart, dann kämpfen die Teilnehmenden um die beste Position an den Bojen, die sie umrunden müssen. Die starken Beine und der starke Rumpf aus dem Eishockey kommen Lengwiler dabei zugute.
Eine Viertelstunde dauert ein Lauf, pro Tag sind in Marseille vier davon angesetzt. Die Kitesurferinnen erreichen dabei Geschwindigkeiten von bis zu 70 km/h, eine hochintensive Sache. Sie versuchen ständig, die ganze Kraft des Kites aufs Foil zu übertragen, um Geschwindigkeit zu gewinnen. «Dafür musst du möglichst viel Gegendruck erzeugen», sagt Lengwiler, die unterdessen am Walensee wohnt. Die Kites dieser Disziplin ähneln eher Gleitschirmen, im Gegensatz zu den Freestyle-Kites, die mit einem aufblasbaren Kanal ausgestattet sind.
Die Formula-Kites fliegen bei einer grösseren Windstärken-Spanne. Sie sind weniger stabil und klappen bei Böen manchmal zusammen, sind dafür mehr auf Performance ausgelegt: Man kann mit ihnen viel steilere Winkel fahren und sie mehr trimmen.
Das Gespür für den Wind hat Lengwiler durch jahrelanges Segeln entwickelt, an das hohe Tempo musste sich die WM-Sechste jedoch herantasten. «Die Erfahrung killt die Angst», sagt sie. Wettkämpfe sind bis zu einer Windgeschwindigkeit von 30 Knoten erlaubt, «aber dann ist es eher ein Überlebenskampf», sagt Lengwiler, die ausserhalb des Wassers ausgesprochen ruhig ist und leise spricht. Wenn es böig und wellig sei, müsse man ständig auf der Hut sein.
Aus Sicherheitsgründen ziehen die Athletinnen und Athleten eine Aufprallweste über den Neoprenanzug, auch der Helm ist Pflicht. In Entwicklung ist ein schnittsicherer Wetsuit, denn die Hinterkante des Foils ist messerscharf. Beim Tragen rutschte Lengwiler das Foil einmal aus der Hand und berührte ihren Fuss – die Wunde musste genäht werden.
10 000 Franken für ein Ausrüstungs-Set
Seit einem Jahr steckt die ausgebildete Sportmanagerin ihre ganze Energie in das Projekt Formula Kite. Andere Hobbys? «Vielleicht später wieder.» Wenn sie aus Spass aufs Wasser geht, kommt es vor, dass ihr langweilig wird, weil sie sonst jede Minute an Manövern und technischen Details feilt. Rund zweieinhalb Wochen pro Monat trainiert sie im Ausland, in der Winter-Trainingsbasis auf Fuerteventura oder in Südfrankreich.
Noch lebt sie auch von ihren Ersparnissen. Kürzlich nahm der Gstaad Yacht Club sie in sein Racing Team auf und unterstützt sie vor allem bei der Finanzierung des Materials. Eine Ausrüstung kostet etwa 10 000 Franken: 4000 Franken für das Foil, 1000 für das Brett, rund 5000 für einen Kite. Vor einem Wettkampf darf jede Athletin vier verschiedene Kite-Grössen angeben. Für Olympia hat Lengwiler in jeder Grösse drei bis vier Stück, da das Material schnell kaputtgehen kann. Der Verband Swiss Sailing bezahlt den Trainer, das Motorboot und die Betreuung wie Physiotherapie.
Das Schweizer Segelteam liebäugelt an den Spielen in Marseille mit der ersten Olympiamedaille seit 1968. In fünf von zehn Segelklassen starten Schweizer, zum Teil mit gestärktem Selbstvertrauen nach Medaillengewinnen an Weltmeisterschaften. Nach Tokio 2021 sah es zunächst nicht danach aus. «Das neue Alinghi-Projekt leerte fast die Hälfte unseres Kaders», sagt Christian Scherrer, der 2003 Teil der erfolgreichen Alinghi-Kampagne am America’s Cup war. «Doch nun hat sich das Team sehr gut entwickelt.»
Elena Lengwiler etwa wurde wegen ihrer rasanten Fortschritte schon vor ihrer Kaderzugehörigkeit für ein Trainingslager aufgeboten. Das kleine Team für die Olympischen Spiele kann auf einen zusätzlichen Fonds aus privater Quelle zugreifen. Und die Verpflichtung des erfahrenen Franzosen Matthieu Girolet als Trainer der Kitesurfer sei «ein Glücksfall» gewesen, sagt Scherrer.
Neben Lengwiler besitzt in Marseille auch einer der Favoriten einen Schweizer Pass, Maximilian Maeder. Der 17-Jährige startet aber für Singapur, während sein jüngerer Bruder Karl auf den Nachwuchsstufen für die Schweiz antritt – die Brüder sind in beiden Ländern aufgewachsen.
Nach jeweils fünf Wettfahrten sieht es sowohl für Elena Lengwiler als auch für Maximilian Maeder sehr gut aus; sie führt das Klassement der Frauen an, er jenes der Männer. Aber nur sie verwirklicht ihren Olympiatraum für die Schweiz. Auch wenn dieser erst zwei Jahre alt ist.