Der Aussenminister meldet sich wieder einmal öffentlich zu Wort und schlägt dabei neue Töne an.
Für Ignazio Cassis ist der 1. August ein Tag, um innezuhalten – und um wieder einmal mit privaten Medien zu sprechen. Zum Nationalfeiertag gab der Aussenminister eines seiner selten gewordenen Interviews. Der «Sommer Talk» auf Tele Züri dauert 25 Minuten und wirkt wohlig inszeniert – die Verhandlungen mit der EU kommen erst gar nicht zur Sprache. Gleichwohl sagt der FDP-Bundesrat Aufschlussreiches, etwa zum Krieg in der Ukraine.
Neu ist dabei vor allem die Klarheit, mit der Cassis nun auch Kiew in die Pflicht nimmt. Dass es keinen Frieden geben werde, solange Russland nicht am Verhandlungstisch sitze, sei klar. Auf der diplomatischen Ebene müsse man nun aber «insistieren, bis auch die Ukraine bereit ist, diesen Schritt zu machen, um einen diplomatischen Ausweg zu finden».
Frieden in der Ukraine sei «realistisch»
Einen Frieden sieht der Aussenminister in absehbarer Zeit als «realistisch» an, zumal den Kriegsparteien irgendwann die Waffen ausgehen würden. Dass er damit vor allem die Ukraine meinen dürfte, spricht er nicht aus. Es ist angesichts des Kriegsverlaufs zugunsten Russlands aber selbsterklärend. Im Moment, so Cassis allgemein, versuchten die Kriegsparteien, auf dem Schlachtfeld Fakten zu schaffen, um sich eine bessere Ausgangslage für allfällige Verhandlungen zu verschaffen.
Die wiederholten Sticheleien des russischen Aussenministers Sergei Lawrow, wonach die Schweiz nicht mehr neutral sei, relativiert Cassis als reine «Kriegsrhetorik». In Diplomatenkreisen wird dem Tessiner ein gutes persönliches Verhältnis zu seinem russischen Amtskollegen nachgesagt. Lawrow sehe in Cassis einen der wenigen verlässlichen Gesprächspartner im Westen. Im Fernsehinterview sagt Cassis, dass die Schweiz sich auch weiterhin nicht scheuen dürfe, «mit allen zu sprechen».
Das EDA hält auf Nachfrage fest, dass die Schweiz nach wie vor auf eine Verhandlungslösung hinarbeite. Das sei von Beginn an die Position des Bundesrats gewesen und mit der Durchführung der Bürgenstock-Konferenz bestärkt worden. Diese sei als Zwischenschritt hin zu einem Frieden zu verstehen, sagt Cassis auch im Interview.
Weniger optimistisch äussert sich der Aussenminister zur Situation im Nahen Osten. Cassis räumt indirekt ein, dass die Schweiz momentan mit ihren Guten Diensten an ihre Grenzen komme. Derzeit sei hard power – also Militär – gefragter denn die soft power der Diplomatie. Cassis ruft alle Akteure zur Besinnung auf und hofft, dass sich der Krieg in der Region nicht weiter ausdehnt. Anders als im Ukraine-Krieg scheint man sich hier keine aktivere Rolle zuzutrauen. «Wir müssen realistisch bleiben», sagt Cassis.
Die Zurückhaltung des Aussenministers dürfte nicht nur mit der Komplexität des Krieges zu tun haben. Der Nahe Osten bleibt für Cassis auch innenpolitisch ein verfahrenes Dossier. So haben sich am Dienstag etwa die Grünen an den FDP-Bundesrat gerichtet. Cassis müsse «das Schweigen der Schweiz» beenden und sich für eine sofortige Waffenruhe und eine Zweistaatenlösung einsetzen.
Andererseits gerate die Schweiz unter Verdacht, sich an «Kriegsverbrechen» der «rechtsextremen» Netanyahu-Regierung «mitschuldig» zu machen. Weiter fordern die Grünen, dass die Schweiz das Budget für die UNRWA erhöhen soll. Dass das Palästinenserhilfswerk der Uno soeben neun Mitarbeitern gekündigt hat, weil diese bei den Judenpogromen der Hamas vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen sein sollen, erwähnt die Pazifistenpartei genauso wenig wie den Umstand, dass diese Terrorattacken erst zu den anhaltenden Kriegseskalationen geführt hatten.
Kritik von Calmy-Rey
Cassis führt ein Aussendepartement, in dem eine Vielzahl der Diplomaten ähnlich denkt und argumentiert wie die Grünen. Micheline Calmy-Rey, eine seiner Vorgängerinnen, äussert sich ähnlich. In einem am Mittwoch erschienenen Interview mit den Zeitungen von CH Media wirft die frühere SP-Bundesrätin dem Aussendepartement und damit Cassis «Doppelmoral» vor. Gegenüber Russland halte man das Völkerrecht hoch und ergreife Sanktionen, während man sich bei Israel zurückhalte.
«Gerade die Schweiz als Vertreterin der Genfer Konventionen und als Land, welches das humanitäre Völkerrecht geprägt hat, sollte das internationale Recht als Priorität sehen. Wenn der internationale Gerichtshof von israelischen Kriegsverbrechen spricht, müsste die Schweiz das auch tun», sagte Calmy-Rey. Sie sei davon überzeugt, dass die Schweizer Neutralität Zukunft habe und der Schweiz Sicherheit garantiere. «Wir haben als neutraler Staat grosse Glaubwürdigkeit.» Immerhin: Calmy-Rey, die sich als Aussenministerin erfolglos für eine Zweistaatenlösung eingesetzt hatte, wertet zumindest die Bürgenstock-Konferenz als einen Erfolg für die Schweizer Diplomatie.
Derartige Kritik und wohlgemeinte Ratschläge aus den Reihen der Vorgänger können bei den gegenwärtigen Amtsinhabern zu Frust und Ermüdungserscheinungen führen. Er denke aber «überhaupt nicht» daran, aufzuhören, sagt Cassis im Sommergespräch mit Tele Zürich. Je länger er im Amt sei, desto leidenschaftlicher sei er dabei. «Ich habe heute noch viel mehr Freude, Bundesrat und Aussenminister zu sein, als noch vor sieben Jahren.»