Die Spiele haben die Franzosen mehr begeistert, als sie es selbst für möglich gehalten hätten. Doch politische Realitäten lassen sich nicht ewig ausblenden.
Wenn jemand bei einer Sache mit solcher Leidenschaft dabei ist, dass er alles um sich herum vergisst, dann sagen die Franzosen, er sei «pris au jeu» – vom Spiel gefangen. In Anlehnung an die Olympischen Spiele stand der Ausdruck jüngst in nahezu jeder französischen Zeitung. Denn die Franzosen waren in den vergangenen beiden Wochen «pris aux jeux» mit einer Intensität, wie sie es wohl selbst nicht für möglich gehalten hätten. Selbst auf die nörgelnden Pariser sprang die Begeisterung über.
In den Tagen vor der Eröffnungsfeier lag vor allem Anspannung in der Luft. Man konnte sie fast mit Händen greifen. Zehntausende Polizisten und Soldaten patrouillierten durch Paris und bewachten den abgesperrten Bereich entlang der Seine, wo die Eröffnungsfeier stattfand. Das erweckte den Anschein, die Stadt befinde sich im Krieg. Jede Sekunde schien Gefahr zu drohen.
Meldungen in den Medien hatten die Angst vor einem Anschlag zusätzlich verstärkt: Zwei Mal wurden in den Tagen vor dem Beginn der Spiele Sicherheitskräfte von bewaffneten Männern attackiert, am Morgen der Eröffnungsfeier hatten Brandanschläge auf das Bahnnetz zahlreiche Verbindungen lahmgelegt.
Ein Land atmet auf
Als am Freitagabend vor zwei Wochen das olympische Feuer entfacht war und der letzte Ton von Céline Dions «Hymne à l’amour» in der Pariser Regennacht ausklang, ging ein fast hörbares Aufatmen durch das Land: Alles ist gut gegangen. Und es ging weiter alles gut.
Das von Schwarzmalern heraufbeschworene Chaos im öffentlichen Nahverkehr blieb aus, es gab keine Ausschreitungen, keine Angriffe, niemanden, der das Fest störte. Sogar die Seine war, entgegen allen Erwartungen, sauber genug für die Triathlon-Wettkämpfe. Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, sagte am Freitag an einer Pressekonferenz, die Olympischen Spiele seien «das Ergebnis von zehn Jahren Arbeit und fünfzehn Tagen Glück».
Und mit jedem Tag, an dem Frankreich das Glück auf seiner Seite hatte, löste sich die Anspannung, füllten sich die Plätze auf den Terrassen der Bistrots, in denen den ganzen Tag auf Bildschirmen die Übertragungen der Wettkämpfe liefen. Die französischen Sportfans, die ihre Athleten beim Schwimmen, beim Tischtennis und beim Fechten mit derselben ungebrochenen Begeisterung anfeuerten, liessen vergessen, dass die Nation sonst den Ruf hat, notorisch schlecht gelaunt zu sein.
Politischer Waffenstillstand und gemeinsame Realitätsflucht
Die Stimmung in den Stadien, die atemberaubenden Kulissen an den Austragungsorten wie dem Schloss Versailles und dem Grand Palais, die Freundlichkeit der Helfer – die internationale Presse überschlug sich vor Begeisterung über die Wettkämpfe in Paris. Die gute Stimmung schien auch auf die französischen Athleten überzuspringen, die so viele Medaillen holten wie nie zuvor bei Olympischen Spielen.
Zwei Monate nachdem Präsident Emmanuel Macron Frankreich ins Chaos gestürzt hatte, indem er überraschend Neuwahlen ausrief, schafften die Spiele, was in diesen angespannten politischen Zeiten niemand für möglich gehalten hatte: Die Franzosen waren stolz auf ihr Land.
Die politische Krise, die Sorgen um die Zukunft, all das verschwand im Hintergrund. Die Spiele boten Gelegenheit für eine kollektive Realitätsflucht. Dass das Land nach den Parlamentswahlen politisch in drei scheinbar unversöhnliche Blöcke gespalten ist, davon redete jetzt zwei Wochen niemand mehr – ebenso wurde die Tatsache ignoriert, dass es derzeit nur eine Übergangsregierung gibt.
Dem von Macron angeordneten «politischen Waffenstillstand» wurde tatsächlich Folge geleistet. Auch der Präsident wirkte gelöst. Immer wieder unterbrach er seine Ferien an der französischen Mittelmeerküste, um nach Paris zu reisen und erfolgreichen Sportlern die Hände zu schütteln.
Eine neue Regierung muss her
Aber es wäre naiv zu glauben, dass das alles war, was Macron in den vergangenen zwei Wochen tat. Der Präsident dürfte die Ruhepause auch dafür genutzt haben, eine Regierungsbildung nach seinen Wünschen voranzutreiben. In den Tagen vor der Eröffnungsfeier hatte er in einem Fernsehinterview anerkannt, dass die bisherige Regierung abgewählt wurde. Für einen Premierminister aus dem Lager des linken Nouveau Front populaire aber, des stärksten Parteienbündnisses bei den Wahlen, hatte er wenig Begeisterung übrig.
Stattdessen betonte der Präsident, wie wichtig es sei, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden, die Reformen umsetzen könne. Laut diversen französischen Medienberichten liefen in den vergangenen Wochen im Hintergrund entsprechende Verhandlungen mit gemässigten Kräften. Bereits kursieren neue Namen für das Premierministeramt, wie der des Republikaners Xavier Bertrand oder der von Bernard Cazeneuve, ehemaliger Minister in der Regierung von François Hollande.
Denn trotz allem Freudentaumel braucht Frankreich baldmöglichst eine neue Regierung. Für den reibungslosen Ablauf der Spiele mag es nützlich gewesen sein, dass etwa Innenminister Gérald Darmanin nach wie vor die Geschäfte führt. Politisch sorgte Macrons Entscheid, vor dem Ende der Spiele keine neue Regierung einzuberufen, jedoch für einige Kritik.
Zwar gibt es keine gesetzliche Regelung dafür, wie lange eine rein geschäftsführende Regierung im Amt bleiben darf. Doch eine solche kann das Land nur verwalten und keine neuen Gesetze erlassen. Solange also kein neuer Premierminister bestimmt ist, ist Frankreich politisch zum Stillstand verdammt. Die abgewählten Minister müssen also Platz machen.
Droht bald die nächste Auflösung?
Doch nicht nur Macron war aktiv: Der Nouveau Front populaire hatte noch vor dem Beginn der Spiele die Ökonomin Lucie Castets als Kandidatin für das Premierministeramt aufgestellt. Diese nutzte die vergangenen Wochen, um sich auf einer Tour durch das Land bei den Franzosen bekannt zu machen – was in all dem Olympia-Trubel allerdings ziemlich unterging.
Politiker aus Macrons eigenem Lager, unter ihnen der scheidende Verkehrsminister Patrice Vergriete, sagen, der Präsident solle einen Schritt auf die Linke zugehen und Castets zum Gespräch treffen. Macron hat auf solche Vorstösse bisher nicht reagiert. Am Sonntag gehen die Olympischen Spiele offiziell zu Ende, am 28. August beginnen die Paralympischen Wettkämpfe. Vielleicht erhofft sich der Präsident, dass die politische Ruhepause auch diese überdauert.
Die französische Verfassung sieht vor, dass die Nationalversammlung spätestens am ersten Werktag im Oktober aus ihrer Sommerpause zurückkehrt. Für den 31. Oktober ist eine Debatte zur Aufhebung der Rentenreform geplant, die das RN beantragt hat. Doch ohne eine Regierung, die die Gesetze umsetzt, bringt das wenig. Böse Zungen vermuten, dass die kommende Legislaturperiode eine kurze sein wird – und dass im kommenden Juni, sobald die Verfassung es wieder erlaubt, die nächste Auflösung des Parlaments bevorsteht. So oder so: Mit dem olympischen Frieden dürfte es in Frankreich bald vorbei sein.







