In einem Hotel im Jura können Gäste mit dem Kopf in der Schweiz und mit den Füssen in Frankreich schlafen. Die Familie Arbez hat die Grenze zu ihrem Geschäftsmodell gemacht.
Wer in den Jura fährt, der tut dies eigentlich wegen der Erholung in der Natur, wegen Bergen, Tälern, Schluchten. Doch das Hotel L’Arbézie Franco-Suisse hat auf den ersten Blick wenig davon zu bieten. Zwar liegt der Landgasthof in La Cure, eingebettet zwischen sanften Hügeln, ideal für Wanderungen im Sommer und Skitouren im Winter.
Doch im Hotel ist von dieser einladenden Umgebung wenig zu spüren. Das Dorf La Cure mit seinen wenigen tausend Einwohnern ist in wenigen Minuten durchlaufen, noch schneller durchfahren. Die Hügel verstecken sich hinter stieren Wohnblöcken. Selbst in der Nacht, wenn sich die Gäste von Wander- oder Skitouren erholen wollen, dringt der Verkehrslärm gleich von zwei Seiten des Hotels in die Zimmer. Es liegt eingezwängt zwischen den beiden Nationalstrassen, der Schweizer Route de France und der französischen Rue de la Frontière. Dennoch kommen Gäste, manche immer wieder.
Sie wählen «L’Arbézie» wegen seiner besonderen Lage: Das Hotel steht da, wo die Schweiz aufhört und Frankreich anfängt – genau auf der Grenze.
Die Landesgrenze verläuft längs durch das Hotel, durch den Speisesaal, die Küche, das Treppenhaus und durch einige Zimmer. Die Zimmernummern 6 und 9 sind bei den Gästen besonders beliebt, weil sie hier mit dem Kopf in der Schweiz und mit den Füssen in Frankreich schlafen. In der Nummer 12 liegt das Bett komplett in der Schweiz, dafür die Dusche ennet der Grenze. Das Hotel verfügt über zwei Adressen, zwei Telefonnummern und zwei Eingänge.
Was zuerst äusserst kompliziert und umständlich tönt, sichert einer Familie seit über einem Jahrhundert ein Einkommen – und erhält ein Dorf am Leben.
Eine Grenzerfahrung der sanften Art
Ein älteres Paar aus Paris hat extra einen Zwischenstopp eingelegt auf dem Weg nach Savoie. Die beiden hatten in einem Podcast vom Hotel erfahren. Es sei eine skurrile, aber famose Erfahrung, sich in Frankreich am Frühstücksbuffet zu bedienen, aber das Essen dann in der Schweiz einzunehmen. Das Hotel bietet eine Grenzerfahrung der sanften Art. Und die Familie dahinter weiss sie zu verkaufen.
Die Familie Arbez betreibt das Hotel in vierter Generation. Vier Geschwister führen den Betrieb. Die drei Schwestern kochen, bedienen im Restaurant, nehmen Buchungen entgegen. Aber wenn es darum geht, die Geschichte des Hotels zu erzählen, dann rufen sie ihren Bruder Alexandre Peyron. Denn dafür braucht es Zeit. Und das nötige Flair.
Alexandre Peyron, meliertes Haar, sonore Stimme, beginnt seine Führung hinter dem Hotel, beim Grenzstein, der in einer kaum beachteten Ecke der Terrasse steht. Dieser Stein zeugt von dem Vertrag, mit dem alles begann.
Napoleon Bonaparte annektierte 1805 das Dappental, auch Vallée des Dappes, das an La Cure grenzt. Er löste damit einen jahrzehntelangen Streit zwischen der Schweiz und Frankreich aus. Erst 1862 konnten sich die beiden Länder auf einen Tauschhandel einigen: Frankreich erhielt das Dappental, die Schweiz dafür ein Gebiet gleicher Grösse am Abhang des Bergs Noirmont. Das bot einem gewissen Alphonse Ponthus eine einzigartige Möglichkeit.
Alphonse Ponthus, der Schwager von Peyrons Ururgrossvater, besass damals ein braches Stück Land, das sich nach der neuen Regelung genau auf der Grenze befand. Bis diese offiziell in Kraft trat, vergingen jedoch noch Monate. Und das ermöglichte Ponthus, noch schnell ein Haus auf die Grenze zu bauen. Er hoffte, dies würde ihm bei seinen Geschäften zugutekommen: Alphonse Ponthus war Schmuggler. Zum Hotel wurde das Gebäude erst 1921. Nach Ponthus’ Tod zerstritten sich seine Söhne und verkauften das Gebäude an Peyrons Ururgrossvater, Jules-Jean Arbez.
Das Arbeiten auf der Grenze bedeutete erst einmal mehr Aufwand, zwei Behörden, zwei Regelwerke. In vielen Dingen konnte die Familie Kompromisse aushandeln. Steuern zahlt das Hotel in beiden Ländern, 70 Prozent in Frankreich, 30 Prozent in der Schweiz. Der Strom fliesst aus Frankreich, der Abfall wird in der Schweiz entsorgt. Doch teilweise zeigen sich Frankreich und Schweiz unversöhnlich – und das manifestiert sich in den Gemäuern.
Peyron zeigt auf einen Spiegel, der eigentlich ein Fenster hätte werden sollen. Das Problem: Die Grenze verläuft genau durch die Wand. «Die Schweiz hat uns den Innenausbau genehmigt, Frankreich aber den Durchbruch der Mauer nicht», sagt Peyron. Er schmunzelt.
Deserteure und Liebespaare
Peyron erzählt die Anekdoten oft und gerne. Heute verursacht die Grenze im Alltag nur noch selten Probleme. Peyron lässt darum die Momente aufleben, in denen das Hotel der einzige Ort war, wo die Grenze überwindbar schien. Momente, in denen seine Familie Leben rettete und Beziehungen schützte.
Im Zweiten Weltkrieg verhalfen Peyrons Grosseltern Deserteuren und Juden zur Flucht in die Schweiz und versteckten sie vor den deutschen Besatzern. Der zweite Stock diente als Versteck, bis die Flüchtenden unbemerkt durch den Schweizer Ausgang fliehen konnten. «Die deutschen Soldaten konnten nicht hoch, weil sie auf der siebten Stufe die Grenze überquert hätten», sagt Peyron. Die Grosseltern hätten damit gedroht, die Schweizer Behörden zu informieren.
Während des Lockdowns in der Pandemie fand ein Liebespaar im Hotel zusammen. Er lebte in Nyon, sie in Nantes, die geschlossene Grenze trennte die beiden. Also übernachteten sie im Hotel. Alles sei regelkonform abgelaufen, betont Peyron. «Natürlich schlief die Frau auf der französischen Seite, ihr Mann auf der schweizerischen», sagt er.
Das Hotel L’Arbézie Franco-Suisse hat die Grenze zu seinem Geschäftsmodell gemacht. Es überlebt dank den Geschichten, als einziges im Dorf. In La Cure ist man froh um die Familie Arbez. Denn sie bleibt, während so viele andere weggezogen sind.
Nun, nach hundert Jahren, wagt die Familie Arbez etwas Neues. Sie hat auf der französischen Seite des Dorfes ein zweites Hotel gekauft, fernab der Grenze. Ein ganz normales Hotel, für Familie Arbez: Neuland.