Mit dem abrupten Führungswechsel beim Nahrungsmittelkonzern demonstriert der Verwaltungsratspräsident seine Macht. Die angekündigten Massnahmen sind sinnvoll, aber ohne schmerzhafte Eingriffe wird es kaum gehen.
Nestlé will zurück zu ihren Wurzeln.
Dafür opfert Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke den einstigen Hoffnungsträger Mark Schneider und setzt mit Laurent Freixe ein Urgestein als CEO ein – quasi per sofort. Die Nachricht schlug am Donnerstagabend ein, die Börse reagiert am Freitagmorgen verunsichert. Der Aktienkurs gibt deutlich nach.
Dass bei Nestlé so einiges im Argen lag, hatte sich in den vergangenen Monaten abgezeichnet. Der weltgrösste Lebensmittelkonzern hat an Schwung eingebüsst und liess zuletzt auch kommunikativ zu wünschen übrig. Noch im Mai verkündete Mark Schneider das baldige Ende der Baisse, nur um mit den Halbjahreszahlen Ende Juli den Markt erneut zu enttäuschen. Der abtretende CEO hat zuerst in den Märkten, dann bei den Investoren und zuletzt auch intern die Führung verloren – die Oberhand behält Paul Bulcke.
Die Kräfteverhältnisse sind klar, das zeigt sich an verschiedenen Punkten. Ob das aber nur zum Vorteil Nestlés ist, darf bezweifelt werden.
Schneider und Bulcke: Eine spezielle Konstellation mit nur einem Sieger
Die Konstellation von Paul Bulcke als Präsident und Mark Schneider als CEO war von Beginn weg eine spezielle. Hier der joviale Belgier Bulcke, der in seinen fast neun Jahren als Konzernchef als Verwalter galt, der aber gerne das letzte Wort behält und von dem bekannt ist, dass er das Operative nie richtig loslassen konnte und auch heute noch sehr gerne sehr nahe dran ist. Dort der auf den ersten Blick spröde wirkende Deutsche Schneider, der als Macher antrat, schnell Erfolg hatte und stets souverän wirkte, dessen Amtszeit sich im Nachhinein aber vereinfacht in zwei klare Abschnitte gliedern lässt: den Aufstieg und den Fall.
Gut möglich, dass Schneider, der selbst Mitglied des Verwaltungsrats ist, nach den schwierigen vergangenen Monaten bereits intern wie extern angezählt, am Donnerstag dem Aufsichtsgremium die Vertrauensfrage gestellt und sie verloren hat. Sein letzter Auftritt als CEO an einer Telefonkonferenz heute Freitagmorgen machte jedenfalls die Machtverhältnisse klar: Kaum fünf Sätze wurden dem 58-Jährigen noch zugestanden, bevor Paul Bulcke übernahm. Wie schon in der Medienmitteilung vom Donnerstagabend verzichtete der Konzern in Bezug auf den Wechsel praktisch gänzlich auf leere Floskeln. Kurz und knapp verabschiedete sich Schneider von den zuhörenden Investoren und Analystinnen.
Klar, was sollte er noch sagen?
Paul Bulcke dagegen sagte: viel. Nun kommt dem VRP in einer solchen Situation natürlich die führende Rolle zu, er ist verantwortlich für die personellen Entscheidungen an der Unternehmensspitze. Und das nutzte der 69-Jährige für eine Kampfansage, mit viel Kriegsrhetorik.
«Rally the troops and align.»
Versammle die Truppen, bilde eine Einheit.
Oder auch, was es jetzt bei Nestlé brauche, sei Erfahrung aus dem Schützengraben, und die bringe Laurent Freixe mit.
«Mark did a good job. But Laurent has in the trenches experience.»
Laurent Freixe: Ein Nestlé-Urgestein, das schon ausrangiert war, wird zur schnellen Lösung
Mit Laurent Freixe übernimmt ein Urgestein, ein altes Schlachtross, um bei Bulckes Rhetorik zu bleiben. Der Franzose hat seine gesamte Karriere bei Nestlé verbracht: 1986 trat er im Marketing- und Verkaufsbereich ein, in der Folge übernahm er Schlüsselprodukte wie die Leitung der Nutrition-Sparte in Frankreich und leitete verschiedene Märkte (Ungarn, Iberische Halbinsel), bevor er 2008, kurz nach dem Amtsantritt von Paul Bulcke als CEO, zum Europa-Chef ernannt wurde und in die Geschäftsleitung aufstieg. Der bisherige Höhepunkt in Freixes Karriere markierte im Jahr 2014 die Ernennung zum Leiter Americas, der grössten Region in der damaligen Organisation.
Drei Jahre darauf folgte die grosse Enttäuschung: Für die Nachfolge von Paul Bulcke an der operativen Spitze wurde der Externe Mark Schneider berufen. Es war auch ein Eingeständnis, dass die Strategie Bulckes und seines VR-Präsidenten Peter Brabeck-Letmathe nicht zum gewünschten Wachstum zurückführen würde. Mit der neuen Marktorganisation per Januar 2022 wurde Freixe gar zum Leiter Lateinamerika degradiert, mit damals fast 60 Jahren. Kaum jemand hielt es da wohl für möglich, dass der Sprung an die Spitze doch noch gelingen würde. Freixe war ausrangiert.
Heute ist Freixe für Bulcke zum einen sicher eine schnelle Lösung; viele interne und damit sofort wirksame Alternativen blieben angesichts des abrupten Wechsels nicht. Niemand im Management bringt so viel (Nestlé-)Erfahrung mit, Finanzchefin Anna Manz etwa ist erst seit diesem Jahr beim Konzern. Er ist aber auch eine sichere Lösung. Vom neuen CEO werden anders als von Schneider damals keine Überraschungen erwartet. Im Gegenteil, Freixes Aussagen am Freitagmorgen hörten sich an wie eine direkte Kritik an der Ausrichtung und am Führungsstil seines Vorgängers: Er wolle sich mit den Menschen austauschen, die Mitarbeiter an der Front mit Energie versorgen, das Unternehmen besser organisieren, das bestehende Geschäft verstehen und darin investieren, Ziele verwirklichen.
So bleibt Paul Bulcke der starke Mann bei Nestlé – und er ist überzeugt, dass er auch der richtige Mann dafür ist.
«I know this company, I know what brought us success.»
Die Massnahmen: Schneiders Aktivismus wird für gescheitert erklärt
Fragen zur Jahresprognose und den mittelfristigen operativen Zielen lehnte Bulcke konsequent ab. Die Telefonkonferenz sei nicht dazu da, diese zu beantworten. Die Zuhörenden wirkten konsterniert, verständlicherweise, angesichts der Enttäuschungen und der zuletzt mangelhaften Kommunikation.
Für einen Moment wirkte es gar, als hätte der Präsident zusammen mit Schneider auch dessen Ziele verabschiedet. Finanzchefin Manz eilte ihm zu Hilfe und stellte klar, dass der Konzern schon aus rechtlichen Gründen zu einer Mitteilung verpflichtet gewesen wäre, wäre die Prognose in Gefahr. Freixe verwies für mehr Informationen auf den Kapitalmarkttag im November.
Was bisher von der Ausrichtung des neuen CEO bekannt ist, erscheint durchaus sinnvoll – und gar nicht unbedingt neu. Schon in den vergangenen Monaten hat Nestlé erkannt, dass sie die Kernmarken stärken und Marktanteile zurückgewinnen muss. Dreissig bis vierzig davon wurden als Wachstumstreiber auserkoren. Die operative Umsetzung, lange jener Faktor, um den der Konzern bei der Konkurrenz beneidet worden war, liess zuletzt zu wünschen übrig. Der Fokus auf die Marktführerschaft soll nicht nur organisch Umsatzzuwachs bringen, sondern auch die Marge stützen. Es sei keine Entscheidung zwischen Wachstum und Profitabilität, beantwortete Freixe die Frage einer Analystin. Er wolle beides fördern und verwies explizit auf Produktivitäts- und Kostenmassnahmen.
Die Frage ist, ob das im gegenwärtigen Marktumfeld reicht, und ob mit Bulcke im Hintergrund genug Wille zu einschneidenden und vielleicht auch schmerzhaften Veränderungen vorhanden ist. Nach einer grösseren Restrukturierung gefragt, antworteten der angehende CEO und der Präsident: Nestlé werde die Herausforderungen weiterhin nach Nestlé-Art angehen. Sprich, ein umfassendes Programm ist nicht geplant. Stattdessen sagte Freixe mehrfach, man wolle investieren, investieren, investieren.
Wenn Schneider eines richtig erkannt hatte, dann, dass sich die Lebensmittelbranche stark gewandelt hat und sich die Trends immer schneller ablösen – und dass Nestlé eben nicht abseitsstehen und sich nur auf sich selbst konzentrieren kann. Dieser Aktivismus wurde zunächst bejubelt, wird ihm jetzt zunehmend zum Vorwurf gemacht und für gescheitert erklärt.
Paul Bulcke: Der Dominator wirkt aus der Zeit gefallen
Was kommt als nächstes? Freixe ist 62 Jahre alt, Bulcke wird in gut zwei Wochen bereits 70. So vehement der VR-Präsident seine Punkte an diesem denkwürdigen Freitag für Nestlé macht, so klar wird auch, dass er ein Chef alter Garde ist, und das nicht nur aufgrund seiner Schützengraben-Rhetorik, die heute, angesichts des neuerlichen Kriegs in Europa, zusätzlich deplatziert erscheint.
Gemäss aktuellen Statuten muss er an der Generalversammlung im April 2027 ohnehin seinen Posten räumen, zeitgleich würde der neue CEO ordentlich pensioniert – oder in Nestlé-Tradition zum neuen Präsidenten ernannt. Das sind zweieinhalb kurze Jahre, um Nestlé in die Erfolgsspur zurückzuführen.
Insgesamt wird man den Eindruck nicht los, dass Bulcke und damit auch Nestlé nicht nur zurück zu den Wurzeln, sondern auch zurück in die Vergangenheit wollen.