Der jüngste Beschluss der Regierung für eine Zwangs-Erdbebenversicherung ruft nach der Frage, in welchen Fällen ein Versicherungsobligatorium sinnvoll ist.
Golfspielern kann es an einem Glückstag passieren, dass sie den Ball in nur einem Schlag einlochen (im Jargon: Hole-in-one). Doch das hat seinen Preis: Die Sitten verlangen es allem Anschein nach, dass solche Glückspilze im Klubhaus eine Runde spenden – und in einer Golfgesellschaft kommt das nicht ganz billig. Zum Glück kann man sich dagegen versichern. «Wir übernehmen die übliche Runde im Clubhaus nach einem Hole-in-One bis zu CHF 3000», verspricht zum Beispiel die Versicherung Vaudoise.
Jeder ist frei, eine solche Versicherung abzuschliessen oder auch nicht. Aus dem Bauchgefühl leuchtet rasch ein, warum eine Versicherung gegen Golfglück nicht obligatorisch ist. Doch der Bundesrat hat vergangene Woche einen Beschluss zu einer neuen Pflichtversicherung gefällt, der nicht jedem sofort einleuchten mag: Gebäudeeigentümer sollen künftig zwangsweise gegen Erdbeben versichert sein. Bei schweren Erdbebenschäden in der Schweiz müssten alle bis zu 0,7 Prozent des Gebäudeversicherungswerts zur Schadensdeckung beitragen – auch wenn das eigene Gebäude keinen Schaden hat.
Pikanterweise hatte der gleiche Bundesrat 2021 einen Projektvorschlag zur Einführung einer Pflichtversicherung für Unternehmen gegen Schäden für pandemiebedingte Zwangsschliessungen oder sonstige Betriebseinschränkungen versenkt.
Staatsgarantie im Visier
Die Episode ruft nach der Frage, in welchen Fällen ein Versicherungsobligatorium sinnvoll ist. Die Antwort hängt von der Sichtweise ab. «Sinnvoll ist etwas, wenn es eine Mehrheit dafür gibt», mag der Politiker sagen.
Aus ökonomischer Sicht ist grundsätzlich die Freiwilligkeit vorzuziehen: Jeder soll nach seiner persönlichen Situation und seiner Risikoscheu selber entscheiden, ob er eine Versicherung abschliessen will. Es kann allerdings Informationsmängel geben. So können Menschen dazu neigen, die Risiken von Katastrophen wie etwa Erdbeben oder Pandemien zu unterschätzen. Ausser direkt nach einem solchen Ereignis: Dann ist plötzlich eine Überschätzung gut möglich.
Menschliche Fehleinschätzungen sind gängig und reichen bei weitem nicht für einen Zwang. Sonst müsste man ein Versicherungsobligatorium für quasi alles einschliesslich des Golfglücks einführen. Und ob der Staat aus Sicht aller Betroffenen alles «richtig» einschätzen würde, wäre ohnehin höchst zweifelhaft.
Das gewichtigste Argument für ein Versicherungsobligatorium liegt im Schadenspotenzial. Sind die potenziellen Schäden so gross, dass sie manche Unversicherte in den finanziellen Ruin treiben würden, käme der Sozialstaat zur Kasse. Potenziell Betroffene können damit spekulieren, dass der Staat im Ernstfall helfend einspringt, was Anreize gibt, die Prämien für eine Versicherung zu sparen. Ein Versicherungsobligatorium wäre ein Mittel zur Beseitigung der «faktischen Staatsgarantie» und der damit verbundenen Fehlanreize.
Das ist ein zentraler Grund, warum in der Schweiz Versicherungen gegen Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und für Autohaftpflicht obligatorisch sind. Hier geht es jeweils um potenziell grosse Schäden, die Betroffene finanziell überfordern können – im Unterschied etwa zur besagten Golfversicherung oder zu Reiseversicherungen. Auch das Obligatorium in der Altersvorsorge soll unter anderem dem Schutz des Sozialstaats dienen; ohne ein solches Obligatorium wären die staatlichen Rentnerbeihilfen vermutlich weit höher.
Fehlanreize programmiert
Jede Versicherung hat mindestens einen Nachteil: Der Anreiz der Versicherten zur Vermeidung von Schäden sinkt. Bei einem Obligatorium wiegt das noch schwerer. Dies lässt sich ein Stück weit lindern durch Kostenbeteiligung der Versicherten im Schadensfall, ein Bonus-Malus-System in der Prämiengestaltung und Verhaltensvorschriften, wie etwa Bauauflagen für Gebäudeeigentümer und Vorgaben zur Stellensuche für Arbeitslose. Voll beseitigen lässt sich das Problem aber nicht. Dieses stellt sich jedoch auch bei einer verbreiteten Wahrnehmung einer faktischen Staatsgarantie.
Auch bei schweren Erdbeben und Pandemien ist bis zu einem gewissen Mass eine faktische Staatsgarantie für Unversicherte wahrscheinlich. Die breiten Staatshilfen in der Covid-19-Pandemie dürften diese Wahrnehmung verstärkt haben. Hier einige Beurteilungskriterien für die Frage der Pflichtversicherung dieser zwei Risiken.
- Versicherbarkeit. Katastrophen mit seltenem Vorkommen, aber potenziell hohen Schäden sind zum Teil nur sehr beschränkt privat versicherbar, weil die Versicherer zu wenige Daten für eine belastbare Schadensmodellierung als Kalkulationsgrundlage haben. Bei Pandemien kommt erschwerend hinzu, dass solche Ereignisse per Definition global sind: Schäden treten an vielen Orten gleichzeitig auf, so dass ein Pool mit geografischer Diversifizierung kaum möglich ist. Erdbeben sind dagegen in der Regel geografisch begrenzt, was ein globales Risiko-Pooling möglich macht.
- Ereignishäufigkeit. Je seltener ein Ereignis vorkommt, desto weniger ist ein Versicherungsobligatorium angebracht. Nach derzeitigen Mutmassungen kommt in der Schweiz ein Erdbeben mit Hunderten von Milliarden Franken von Schäden nur etwa alle 1000 Jahre vor. Das ist zu selten für den Aufbau eines Versicherungskonstrukts. Erdbeben mit kleinen lokalen Schäden können alle 8 bis 15 Jahre auftreten, doch für solche relativ kleinen Ereignisse braucht es kaum ein nationales Obligatorium; ein freiwilliger Schadenspool der Gebäudeversicherungen für maximal 2 Milliarden Franken existiert bereits. Das Konzept des Bundesrats ist auf mittelschwere Erdbeben mit Gebäudeschäden von bis etwa 20 Milliarden Franken ausgerichtet. Solche Beben könnten etwa ein- oder zweimal pro Jahrhundert oder auch nur alle paar hundert Jahre vorkommen. Bei den Diskussionen über eine Pflicht-Pandemieversicherung rechneten die involvierten Fachleute derweil mit etwa drei Fällen pro Jahrhundert.
- Schadensgrösse. Je eher ein Grossschaden eine Versicherung überfordern würde, desto weniger bringt in der Tendenz ein Obligatorium, weil der Staat die Versicherten ohnehin noch zusätzlich unterstützen müsste. Dies wäre bei einem Jahrtausend-Erdbeben der Fall, aber nicht unbedingt bei einem Jahrhundert-Erdbeben. Bei der vorübergehend diskutierten Pandemieversicherung für Betriebsausfallentschädigungen war eine maximale Abdeckung von 10 bis 15 Milliarden Franken vorgesehen, doch der Grossteil des Risikos wäre auch im diskutierten Modell beim Bund hängengeblieben. Zum Vergleich: In der Covid-Krise hatte der Bund den Unternehmen Härtefallhilfen von gut 5 Milliarden Franken bezahlt und Kredite zur Liquiditätsüberbrückung von rund 17 Milliarden Franken gewährt.
- Fehlanreize. Diese gibt es bei beiden Versicherungstypen. Beim Erdbebenrisiko betrifft dies etwa die Bauweise und die Standortwahl. Beim Pandemierisiko für Betriebsausfälle betrifft dies unter anderem die Schadensminimierung durch die Wahl von Geschäftsmodell, Absatzkanäle und Schutzmassnahmen.
- Solidarität. Will man beim Erdbebenrisiko Solidarität zwischen besonders exponierten Gebieten wie dem Wallis und weniger risikoträchtigen Gebieten? Will man beim Pandemierisiko Solidarität zwischen stärker und schwächer exponierten Branchen? Das ist politisch zu entscheiden.
- Praktikabilität. Für die Erdbebenversicherung scheint es einigermassen praktikable Modelle zu geben. Darauf deuten Erfahrungen an exponierten Orten wie Japan und Kalifornien (ohne Pflichtversicherung, aber mit Angebotspflicht für Versicherer), Neuseeland (mit über 95 Prozent Abdeckung ohne formelle Pflicht) und der Türkei (mit Pflichtversicherung für bestimmte Gebiete). Pandemien können dagegen je nach Typus sehr unterschiedlich verlaufen, was die Abschätzbarkeit des Schadenspotenzials erschwert.
Das Gesamtbild ist nicht schlüssig, aber einzelne Elemente zur Rechtfertigung der bundesrätlichen Haltungsunterschiede zu Erdbeben- und Pandemieversicherung mag es geben. Vom Bund sind vor allem drei Begründungen zu vernehmen: Aus der Wirtschaft habe es kaum Interesse an einer Pandemie-Pflichtversicherung gegeben; Schadensprognosen seien zu Erdbeben schwieriger als zu Pandemien; und bei schweren Pandemien brauche es ohnehin Staatshilfen.