Kürzestgeschichten, Situationen eigentlich, sind die grosse Spezialität der amerikanischen Autorin. Nun erscheint ihr neuster Band «Unsere Fremden» auf Deutsch.
Lydia Davis ist die amerikanische Meisterin der Short Story, aber im richtigen Leben können ihre Geschichten auch einmal etwas länger dauern. Etwa jene mit Amazon. Naiverweise habe sie dort früher selbst Bücher gekauft, sagte sie vor Erscheinen ihres jüngsten Bandes «Our Strangers» im Jahr 2023. Mit dem grossen Feind des Einzelhandels sei jetzt aber Schluss. Ihr neues Buch sollte dort nicht vertrieben werden, sondern nur auf unabhängigen amerikanischen Verkaufsplattformen und in Buchhandlungen.
Um dieses Ziel zu erreichen, trennte sich Davis sogar von ihrem langjährigen Verlag, der renommierten New Yorker Institution Farrar, Straus and Giroux. «Our Strangers» erschien schliesslich bei einem Label, das «Bookshop Editions» heisst.
Lydia Davis schreibt Situationen
Dem Ruhm von Lydia Davis hat diese für den amerikanischen Markt relevante Episode keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Die Schriftstellerin bleibt ein Star mit Aussenseiterstatus. Als Erfindung ihrer selbst könnte sie in den eigenen Kurzgeschichten vorkommen. Als eine der Figuren, die auf hingebungsvolle Art mit der Welt zerfallen sind und in hoch reflexiven Monologen über das Wesen der Liebe nachdenken: Gerade wenn die Menschen einander mögen, ist die Trauer darüber, dass immer ein Rest an Fremdheit bleibt, am grössten.
Die Geschichten von Lydia Davis sind kurz, oft sogar nur wenige Zeilen lang. Eigentlich müsste man für diese Gattung, die oft nicht einmal einen erzählerischen Handlungsfaden braucht, einen neuen Begriff erfinden. Es sind «Situationen».
Paare unterhalten sich über mehrere Zimmer hinweg und liefern sich in dieser akustischen Schwierigkeit einen Dialog voller Missverständnisse. In einer anderen Geschichte führt ein Mann ein Gespräch weiter, nicht bemerkend, dass seine Frau den Raum schon verlassen hat. Von der Küche aus wirkt es für sie, als rede er mit jemand anderem. Ein Spalt in der Wirklichkeit tut sich auf, der sich auch in der scheinbar harmonischsten Geschichte von «Unsere Fremden» nicht schliesst.
«An einem Winternachmittag» heisst die nur eine Seite lange Story, die eine Situation an besagtem Nachmittag beschreibt. Ein grau getigerter Kater, der ausgestreckt auf der Rückenlehne eines Sessels liegt, schläft ein. Im Sessel vor ihm sitzt ein Mann und liest. Nacheinander schlafen ein schwarzer Kater, die Frau des Hauses und schliesslich auch der lesende Mann ein. Schlusssatz: «Inmitten dieser Stille rauscht nun nur noch die Heizung in der Küche und bringt ein wenig Wärme ins Haus.»
Es ist ein Erzählen am Rande des Nichterzählens, aber bei Lydia Davis wird so etwas zu grosser Literatur. Wie ein Blitz in finsterer Nacht beleuchten die Geschichten die Psyche des Lesers. Weil die amerikanische Schriftstellerin mit ihren Sätzen so präzise Skizzen liefert und die Zufälle der Wirklichkeit nicht literarisch entschärft, haben diese Texte etwas Hyperrealistisches.
Von Vertrauen und der Religion
Nun ist «Our Strangers» in deutscher Übersetzung erschienen. «Unsere Fremden», das sind die Nachbarn, von denen in vielen Geschichten des Buches die Rede ist, aber die Fremden, das können auch die Freunde oder die eigenen Väter sein.
In «Vater muss mir etwas erzählen» geht es darum, dass der Vater der Tochter etwas über das Christentum erzählen möchte. Er merkt, dass sie müde ist und nicht richtig zuhört, also geht er nach oben und tippt die Sache in zwei Absätzen aufs Papier. Mit der Bemerkung, dass sie das auch später irgendwann lesen könne, übergibt er der Tochter das Blatt. Um den Kern dieser Vater-Tochter-Geschichte zu zeigen, braucht es keine Pointe. Der Witz bei Lydia Davis liegt oft im Scheitern von Kommunikation. Sie sucht Ereignisse dieses Scheiterns und macht literarisch einen Sieg daraus.
Grandios komisch sind die längeren Texte «Begebenheit im Zug» und «Addie und das Chili». Als die Ich-Erzählerin im Zug auf die Toilette muss, bittet sie ein junges Paar, auf ihre Sachen aufzupassen. Bereits auf dem Weg, überkommt sie ein ungutes Gefühl, und sie bittet einen weiteren Passagier, seinerseits das Paar im Auge zu behalten. Immer weiter verschraubt sich die Geschichte in ein Debakel des Misstrauens. Redundanzen in den Reden der Erzähler sind ebenso ein Mittel zur Erzeugung von Authentizität, wie es anderswo die Reduktion ist.
Parabel für das Leben
In «Addie und das Chili» geht es um die Rekonstruktion eines lange zurückliegenden Abends nach einem Kinobesuch. Die Freundin Addie hatte mit ihren Liebesgeschichten das Gespräch in einem Restaurant gekapert, aber der Monolog der Erzählerin ist in seiner durch die Erinnerung mäandernden Detailversessenheit noch viel schlimmer. Lydia Davis kann das: Abschweifungen, die ins Zentrum führen. In einer unsinnigen Welt ist die Literatur nicht dazu da, mit Sinnproduktion auszuhelfen, sondern dazu, den Mangel in aller Schärfe kenntlich zu machen.
Die Ernüchterungen der mittlerweile 77-jährigen Schriftstellerin und Übersetzerin machen seit Jahrzehnten euphorisch, und einen Kürzesttext wie den mit dem Titel «Spass» kann man fast als Parabel für das Leben selbst lesen: «Als wir die Einladung in die Hand nehmen und sie noch einmal lesen, / am Morgen danach, / sieht die Party immer noch nach Spass aus, / auch wenn sie keinen Spass gemacht hat.»
Lydia Davis: Unsere Fremden. Stories. Droschl-Verlag, Graz 2024. Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm. 312 S., Fr. 37.90.