Im Herbst spielt die Schweiz in der Nations League, der Fokus von Murat Yakin liegt aber bereits auf der nächsten Weltmeisterschaft. Die Ansprüche sind noch einmal gestiegen.
Die Schlagzeile in der NZZ ist erst ein paar Sommerwochen her: «Das grösste Kompliment für die Schweizer: Man konnte sich das Bild vorstellen, wie der Captain Granit Xhaka am 14. Juli in Berlin den EM-Pokal in die Höhe streckt.»
Am 6. Juli schied das Schweizer Nationalteam nach einer begeisternden Europameisterschaft im Viertelfinal in Düsseldorf gegen England im Elfmeterschiessen aus. Unglücklich, unverdient, unsanft.
Und jetzt nimmt Murat Yakin nach drei Jahren als Nationaltrainer erstmals eine Saison in einer Position der Stärke in Angriff. Im August 2021 war er der unerwartete Nachfolger von Vladimir Petkovic und keineswegs die Wunschlösung – direkt von der Challenge League und dem FC Schaffhausen ins höchste Traineramt des Landes.
2022 rieb sich Yakin monatelang mit Xhaka. Es war Gockel-Rhetorik zwischen zwei Alpha-Typen, die sich ähnlicher sind, als ihnen lange Zeit lieb war. Und die erst mit erheblicher Verzögerung realisierten, dass sie einander benötigen. Eigentlich erst, als Yakin nach dem 1:6 gegen Portugal im WM-Achtelfinal in Katar Ende 2022 auch das fürchterliche Länderspieljahr 2023 unbeschadet überstand. Trotz Krise, Unruhe, Negativschlagzeilen. Wie ein Entfesselungskünstler.
Sanfter Generationenwechsel – wirklich?
Es sind Ereignisse wie aus einem anderen Leben. Ende August 2024 ist Murat Yakin im Status eines Nationalhelden. Nach der Euro in Deutschland flogen dem Coach genehme Journalisten sogar zu ihm in die Ferien nach Mallorca, um ihn zu interviewen. Poolbilder inklusive. Yakin hat 2024 mit personellen und taktischen Entscheidungen und sogar mit seinen Brillenmodellen überzeugt. Er ist unantastbar. Und er wäre das vermutlich auch, sollte der Herbst mit den sechs Nations-League-Begegnungen mit Dänemark, Spanien und Serbien ungenügend verlaufen.
Am letzten Donnerstag, beim ersten öffentlichen Medienauftritt nach den Interviews am Pool in Mallorca Mitte Juli, sagte Yakin: «Wir wollen uns im Herbst eine gute Position für die Lostöpfe der WM-Qualifikation schaffen.»
Das erste Aufgebot nach der EM. Willkommen, Gregory Wüthrich!
La 1ère sélection après l’Euro. Bienvenue, Gregory Wüthrich!
La prima convocazione dopo l’Europeo. Benvenuto, Gregory Wüthrich!🇩🇰 🆚🇨🇭
📆 5.9 🕘 20:45🇨🇭🆚 🇪🇸
📆 8.9 🕘 20:45
🏟️ Genève
🎟️ https://t.co/LvDlnGCgvt pic.twitter.com/htHFzg2ceD— 🇨🇭 Nati (@nati_sfv_asf) August 29, 2024
In Yakins Planung geht es bereits um die Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Mexiko und Kanada. Die interessanteste Aussage seit dem Ausscheiden gegen England gelang ihm dabei direkt nach der EM. Angesprochen auf die Situation im Schweizer Tor, sagte er, dass es nicht entscheidend sei, wer in ein paar Wochen die Nummer eins sei – sondern in zwei Jahren.
Damals war der 35-jährige Yann Sommer noch nicht zurückgetreten. Mittlerweile ist der Inter-Mailand-Goalie – mehr oder weniger freiwillig – abgetreten. Die Gegenwart und die Zukunft gehören dem Dortmunder Gregor Kobel.
Bis vor ein paar Tagen hätte man deshalb behaupten können, dass der sanfte Generationenwechsel in der Nationalmannschaft in diesem Sommer ohne grössere Komplikationen moderiert werden konnte. Kobel ist ja einer der weltbesten Torhüter. Und der Rücktritt von Xherdan Shaqiri kam zwar mit 32 Jahren überraschend früh. Dem genialsten und offensiv stilprägendsten Schweizer Offensivspieler des letzten Jahrzehnts fehlte es jedoch zuletzt am angemessenen Fitnesszustand. Bedauerlich ist das abrupte Ende Shaqiris im Nationalteam dennoch.
Die Umstände des Rücktritts Shaqiris, kommuniziert auf Social Media direkt vor der Pressekonferenz Yakins Mitte Juli zur Vertragsverlängerung, deuten auf gekränkte Eitelkeiten hin. Shaqiri hatte sich in der Vergangenheit regelmässig über schlechte oder sogar fehlende Kommunikation des Nationaltrainers beschwert – und den Schweizerischen Fussballverband erst ein paar Stunden vorher über seine Absicht informiert.
Richtig hart getroffen hat Murat Yakin jedoch der Rücktritt Fabian Schärs letzte Woche. Auch hier Erstaunen: Schär ist ebenfalls erst 32, Stammspieler beim Premier-League-Spitzenteam Newcastle, nach starker EM unentbehrlich im Nationalteam.
Aber Schär hatte wie Shaqiri stets gewisse Vorbehalte gegen Yakin. Im letzten Herbst beschwerte sich der Verteidiger sogar in den Medien über mangelnde Einsatzzeiten und fehlendes Vertrauen. Und noch im Februar hiess es aus gut unterrichteten Quellen, Yakin werde Schär nicht für die EM berücksichtigen.
Es kam anders. Total anders. Wie oft bei Murat Yakin. Und jetzt, wo Schär endlich unter Yakin unbestritten gewesen wäre, hat der Abwehrspieler genug? Seltsam. Wie oft bei Murat Yakin. Er fliegt und fällt, steigt und stolpert. Er ist ein Gambler, oft mit dem richtigen Gespür für die Situation. Heute ist der Nationaltrainer mächtiger als sein Vorgesetzter Pierluigi Tami. Das Verhältnis Yakins zum Direktor des Nationalteams ist unterkühlt, seit Tami den Coach im letzten Herbst intern und öffentlich infrage gestellt hat.
Fragen im Sturm und in der Abwehr – und hinten links
Nun lautet die Frage: Kann diese grossartige Spielergeneration um Granit Xhaka die hohen Erwartungen nicht nur erfüllen, sondern sogar erneut übertreffen? Es gibt gute Gründe, die für eine Fortsetzung des Höhenflugs sprechen. Spieler wie Ruben Vargas, Zeki Amdouni, Dan Ndoye sowie vor allem Breel Embolo und Denis Zakaria verfügen über Potenzial und sind in einem Alter, in dem sie mehr Verantwortung übernehmen können. Die Achse mit Kobel, Abwehrchef Manuel Akanji, Xhaka und Embolo ist erstklassig. Und die Mittelfeldspieler Fabian Rieder und Ardon Jashari könnten ihre hoffnungsvollen Karrieren an ihren neuen Stationen in Stuttgart und Brügge wieder lancieren.
Da sind aber auch die Problemzonen. Im Angriff fehlt es neben dem verletzungsanfälligen Embolo an international etablierten Alternativen. Auch Noah Okafor stagniert, wobei der Milan-Stürmer für die Länderspiele am nächsten Donnerstag in Dänemark sowie am nächsten Sonntag gegen Spanien wegen schlechten Verhaltens während der EM gar nicht erst aufgeboten wurde.
In der Abwehr wiederum muss Yakin im Hinblick auf die WM-Kampagne darauf hoffen, dass sich mindestens einer der jungen Innenverteidiger Aurèle Amenda, Leonidas Stergiou, Bryan Okoh, Becir Omeragic und Albian Hajdari prächtig entwickelt. Schär ist insbesondere bezüglich Spielaufbau kaum zu ersetzen, Ricardo Rodriguez wird nicht dynamischer. Und schliesslich: Links in der Defensive gibt es nach wie vor weit und breit keinen Spieler von Format.
Murat Yakin hat 2024 bewiesen, dass er zusammen mit seinem Assistenten Giorgio Contini mutige, spannende und vor allem sinnvolle Lösungen finden kann. Die Ansprüche sind gestiegen. Trotzdem kann sich heute wohl noch niemand vorstellen kann, wie der Captain Granit Xhaka am 19. Juli 2026 in New York den WM-Pokal in die Höhe streckt.
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