Nun ist es offiziell: Die AfD ist die stärkste Partei in Thüringen. Bei den Landtagswahl erhält sie die meisten Stimmen, in Sachsen hat nur die CDU ein besseres Wahlergebnis erzielt.
Björn Höcke: Ein historischer Sieg, den wir heute eingefahren haben. Es ist grossartig, was mein Landesverband geleistet hat in den letzten Wochen.
Das BSW erhält sogar mehr Stimmen als die Grünen und die SPD zusammen.
Sahra Wagenknecht: Das hat es in der Geschichte von Bundesdeutschland noch nie gegeben. Ich finde, da können wir alle gemeinsam stolz auf uns sein.
Aber woran liegt das? Warum sind neue, radikale Parteien gerade im Osten so erfolgreich?
Um den Wahlerfolg der AfD und des BSW zu verstehen, müssen wir uns mit den Unterschieden zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands befassen. Genauer gesagt müssen wir uns anschauen, wie die Gesellschaft in Ostdeutschland historisch geprägt ist.
Die Bevölkerung im Osten Deutschlands hat in den letzten achtzig Jahren nämlich eine andere Realität erlebt als die Westdeutschen.
Oliver Maksan: Der Osten Deutschlands war sowjetische Besatzungszone mit all den Verbrechen, die dann da auch übrigens während dieser Zeit stattfanden. Von der braunen Diktatur wechselten die Ostdeutschen direkt in die rote Diktatur. Es gab also bei vielen ein ausgeprägtes Misstrauen gegen den Staat und damit auch einen sehr hohen Sensus. Da, wo man das Gefühl hat, dass der Staat übergriffig wird.
Der Osten gilt also als misstrauisch. Dem Staat gegenüber, aber eben auch dem Westen gegenüber, den USA gegenüber – eigentlich allem gegenüber, was nicht mit ihrer deutschen Nationalität zu tun hat.
Diese ja schon fast isolationistische Mentalität der Ostdeutschen hat mit der Mauer und der DDR zu tun. Nach dem Mauerfall 1989 prallten zwei Parallelwelten aufeinander. Gerade für die Menschen im Osten eine riesige Herausforderung:
Oliver Maksan: Die haben erlebt, dass ihre Abschlüsse teilweise nichts mehr wert waren, dass ihre Arbeitsleistung, über die sich sehr viele Ostdeutsche übrigens bis heute definieren, also man ist produktives Mitglied der Gesellschaft, dass das dann teilweise gar nicht mehr möglich war, weil ganze Industriezweige wegbrachen und es in der Folge zu einer starken Abwanderung kam.
Die, die im Osten geblieben sind, wurden mit der neuen Realität alleingelassen. Die Bundesrepublik hat zwar viel Geld in die Aufwertung des Ostens gesteckt – zum Beispiel in den Ausbau des Bahnnetzes –, sie hat aber versäumt, die Bewohnerinnen und Bewohner kulturell, sozial und ökonomisch an den Westen heranzuführen. Europäische Union, Nato … Was in Westdeutschland bereits lange etabliert war, war den Ostdeutschen fremd. Jahrzehntelang hatten sie sich nämlich an Moskau orientieren müssen. Und das merkt man bis heute.
Oliver Maksan: Da gibt es auch einen sehr stark ausgeprägten Antiamerikanismus. Der ist manchmal vielleicht sogar noch ausschlaggebender für die Russland-politischen Positionen als jetzt eine ausgesprochene Russland-Liebe. Also man traut den Russen auch nicht über den Weg, aber man hält die Amerikaner fast noch für heuchlerischer und gefährlicher. So die Meinung vieler Leute angesichts der vielen amerikanischen Interventionen in der Welt.
Womit wir wieder beim Misstrauen wären. Ein Misstrauen, das durch die ehemalige DDR-Generation weitergelebt wird. Es ist einer der Punkte, wo Parteien wie die AfD und eben auch das BSW ansetzen und so im Osten Wähler und Wählerinnen von ihrem Programm überzeugen. Die Politik der AfD ist migrationskritisch:
Christian Wirth: «Offene Grenzen und das feige Wegbücken vor illegaler, insbesondere kulturfremder Einwanderung haben dieses Land verändert. Frau Göring-Eckardt freut sich, wir nicht.»
Sie ist europaskeptisch:
Björn Höcke: «Aus deutschem Interesse müssen wir sagen, dass diese EU überwunden werden muss.»
Und sie orientiert sich in erster Linie an Deutschland. Alles Werte, die mit der Mentalität im Osten übereinstimmen.
Das BSW knüpft da ebenfalls an. Die 2024 von Sahra Wagenknecht gegründete Partei ist eine Abspaltung der Linken und gilt unter Politikwissenschaftlern als links-konservativ.
Oliver Maksan: Also in sozialen Fragen, in wirtschaftspolitischen Fragen, was die Besteuerung von Vermögenden anlangt, absolut links, in gesellschaftspolitischen Fragen aber nicht links, also vor allem sogenannte Aufregerthemen wie Gender, aber auch bei der Migration. Eine Partei, die die Interessen der deutschen Bevölkerung da deutlich stärker gewichten würde, als das beispielsweise die Linkspartei zuletzt tat.
Das BSW punktet mit seiner Namensgeberin und Gründerin, Sahra Wagenknecht. Sie gilt als sehr redebegabt und ist in der deutschen Politik sehr präsent. Ihr Name und ihr Auftreten sind für die guten Resultate in Thüringen und Sachsen sicher mitverantwortlich.
Sahra Wagenknecht: «Haben Sie wirklich alle den Verstand verloren? Die ganze Welt, die ganze Welt ausserhalb der deutschen Politblase, weiss, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann. Und dass auch Taurus daran überhaupt nichts ändern würde. Das Einzige, was sich ändern würde, ist, dass Deutschland damit in den Augen Russlands wohl definitiv zur Kriegspartei würde.»
Das BSW hat also eine klare Linie, was den Krieg in der Ukraine angeht. Sahra Wagenknecht gilt auch als Russland-Freundin. Das BSW hat sich programmatisch sonst aber noch kaum festgelegt. Es bespielt also Interessen des linken, aber eben auch des rechten Randes. Und gerade die russlandfreundlichen und ukrainekritischen Positionen sprechen hier die Menschen im Osten an. Eine Gemeinsamkeit mit – genau – der AfD.
Oliver Maksan: Die Russland-Frage gerade in Ostdeutschland ist etwas, was beide Parteien sehr nah zueinanderbringt. Da sind eigentlich nur Nuancen unterscheidbar.
Es ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit.
Oliver Maksan: Also es sind tatsächlich Parteien, die eine auf der Rechten, die andere auf der Linken, die von Repräsentationslücken profitieren. In der Migrationsfrage ist es so, da gibt es auch sehr migrationskritische Positionen. Da ist allerdings die AfD deutlich konsistenter. Also Sahra Wagenknecht persönlich steht für eine migrationskritische Position, allerdings jetzt weniger aus nationalen Gründen, sondern vor allem aus sozialpolitischen Gründen im Sinne von «Also unsere Leute zuerst». Ja, das ist auch links anschlussfähig. Da argumentiert die AfD sicherlich stärker einfach vom Erhalt des ethnisch-kulturellen Charakters des deutschen Volkes.
Wir fassen zusammen: Das BSW wie auch die AfD bedienen die Bedürfnisse vieler Menschen im Osten Deutschlands. Das erklärt ihren Wahlerfolg vom 1. September. Es gibt aber auch Gründe, die weniger mit den Programmen der AfD oder des BSW zu tun haben. Sondern mehr mit den etablierten Parteien, die bei den Landtagswahlen teilweise sehr schlecht abgeschnitten haben.
Oliver Maksan: Das hat zu tun damit, dass die Parteienbindung im Osten viel schwächer ist als in der alten Bundesrepublik in den alten Bundesländern. Das hat damit zu tun, dass die Enttäuschung über die etablierte Politik, über die Bundespolitik vor allem auch, da sehr viel deutlicher durchschlägt.
Also auch wenn die CDU in den 1990er Jahren noch die stärkste Partei in Thüringen und Sachsen war, sind die Ostdeutschen sentimental nicht an diese Partei gebunden. In Ostdeutschland gab und gibt es wenig Verständnis für politische Entscheidungen, wie die Grenzöffnung durch CDU-Kanzlerin Merkel 2015, für die Euro-Rettung 2009 oder auch ganz generell den Umgang mit der AfD. Auch hier sind die unterschwelligen Sentiments wieder: Misstrauen und Benachteiligung der deutschen Nation.
Oliver Maksan: Der Osten macht natürlich nur einen kleinen Teil des deutschen Elektorats aus. Also Wahlen werden eigentlich ja im Westen gewonnen, da wohnt das Gros der deutschen Wahlbevölkerung. Das heisst, das Augenmerk der etablierten Parteien ist ganz wesentlich auf dem Westen, und in dieser Kombination dann hat es dazu geführt, dass man den Osten wirklich verloren hat.
Während die AfD und das BSW also im Osten ihren politischen Einfluss bewusst stärken, schaffen es die etablierten Parteien nicht mehr, die Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Und was bedeutet das jetzt? Die Medien schreiben von einem politischen Beben in Sachsen und Thüringen. Aber ist das wichtig auf Bundesebene?
Oliver Maksan: Ja, natürlich, weil die Befürchtung ist, dass der Osten vielleicht auch ein Wetterleuchten ist für das, was möglicherweise auch dem Westen drohen könnte. Ich glaube, die Ergebnisse zeigen, dass die Strategie der Brandmauer einfach an ihr Ende gekommen ist. Es erweist sich als kontraproduktiv, wenn man denn das Ziel hat, die AfD kleinzuhalten. Die Brandmauer sorgt dafür, dass diejenigen, die glauben, dass die Demokratie dysfunktional geworden ist, in Deutschland sich bestätigt fühlen und dann erst recht die AfD wählen. Und ich glaube, die etablierten Parteien, aber auch die etablierten Medien übrigens, müssen da zu einem neuen Umgang mit diesen Phänomenen links und rechts der Mitte finden. Thüringen und Sachsen haben jetzt gezeigt, dass diese Brandmauer Strategie an ihr Ende gekommen ist.