Die ehemalige 800-Meter-Europameisterin Selina Rutz-Büchel lebt seit dreieinhalb Jahren mit Long Covid. Die Krankheit hat den Alltag der 33-Jährigen verändert – und ihren Blick auf die Leistungsgesellschaft.
Manchmal geht Selina Rutz-Büchel 40 Minuten im Wald spazieren und ist danach zwei Tage lang müde. Springt sie mit ihrer zweijährigen Tochter Malin auf einem kleinen Trampolin, wird ihr sofort schwindlig. Es ist ihr auch nicht möglich, ein Leichtathletik-Meeting zu besuchen; nach einem Tag voller Geräusche, Reisen und Gespräche braucht ihr Nervensystem viel Erholungszeit, um die Eindrücke zu verarbeiten. Gibt die 33-Jährige ihrem Körper diese Zeit nicht, schläft sie schlecht und wird krank.
Rutz-Büchels Leben mit Long Covid ist ein Balanceakt, der von ihr ein feines Gespür erfordert.
Bis vor vier Jahren zählte bei Selina Rutz-Büchel maximaler Einsatz statt Dosierung. Sie gehörte zu den besten Läuferinnen Europas über die 800 Meter, sie liebte es, sich im Wettkampf zu beweisen, wenn in Positionskämpfen die Ellbogen ausgefahren wurden. Rutz-Büchel siegte an der Athletissima 2015, damals wurde sie wie auch 2017 Europameisterin in der Halle. Sie ging gern an ihre Grenzen, trainierte eher zu hart und zu viel.
Heute liegt ihre Priorität auf dem Familienalltag
Im September 2020 lief sie die 800 Meter so schnell wie seit ihrem Schweizer Rekord im Jahr 2015 nie mehr. Mit diesem Schwung wollte sie an den Olympischen Spielen in Tokio 2021 endlich in den Final einer grossen Meisterschaft vorstossen.
Doch im Frühling 2021 infiziert sich Rutz-Büchel mit Corona. Sie ist nur zwei Tage heftig krank, nach zehn Tagen Isolation bestätigt ihr ein Arzt, dass Lunge, Blut und Herz in Ordnung seien: grünes Licht für den Wiedereinstieg ins Training. Doch sobald Rutz-Büchel die Intensität steigert, leidet sie sofort wieder an Covid-Symptomen, hat Schlafstörungen, ist erschöpft. Auf die Olympischen Spiele muss sie verzichten. Als sie im Sommer schwanger wird, ist sie überzeugt, dass diese längere Pause vom Spitzensport das Problem beheben wird.
Doch diese Hoffnung schwindet innert Monaten. Immer wieder versucht sie, die Leistung zu steigern, immer wieder erleidet sie einen Rückfall; im Herbst 2022 beendet sie ihre Karriere. In der Schweiz ist sie die einzige Sportlerin auf diesem Niveau, die wegen Long Covid zurücktreten musste. Gegenwärtig kämpft auch der Radprofi Marlen Reusser mit dem Syndrom, sie musste deswegen ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen und der Rad-WM in Zürich absagen.
Seit ihrem Rücktritt hat Rutz-Büchel keinen Sport mehr getrieben. Zum Gespräch erscheint sie mit dem Velo, die paar hundert Meter von ihrem Haus zum Café sind kein Problem, Rutz-Büchel betont, dass sie nicht jammern oder sich in einer Opferrolle sehen wolle. «Ich habe ein schönes Leben, das ich auch geniessen kann, und habe meine Gesundheit so im Griff, dass ich stabil bin.» Im Frühling bekam sie eine zweite Tochter; ihre Priorität liegt nun darauf, den Familienalltag gut zu bewältigen. Dennoch möchte sie für ihre Zukunft wieder mehr – mehr Sport, mehr Leben, mehr Energie.
Bloss kann sie sich diesen Platz im Leben nicht mit den Ellbogen erkämpfen. Wer an Long Covid leidet, muss seine Leistungsgrenzen erkennen und kurz vorher aufhören. So lässt sich die Grenze im Optimalfall langsam verschieben, das nennt sich Pacing. Rutz-Büchel ist im Laufe der letzten Jahre immer feinfühliger geworden. Sie spürt, wenn sie sich zu viel zugemutet hat und mehr Pausen braucht.
Das Leben spielt sich rund um ihr Haus in Bazenheid im Toggenburg ab, es ist heute ihre Komfortzone. Wenn die Kinder schlafen, macht auch sie Siesta. Auf dem Spielplatz rennt sie mit der Tochter nicht herum. Bei wichtigen Familienfesten achtet sie darauf, dass sie sich davor und danach extra erholen kann.
Es gibt Momente, in denen sie ihr Zustand noch schmerzt. Auf der Bahn liebte sie das Gefühl, wenn jede Faser des Körpers aktiviert war, das Adrenalin sie hellwach machte und sie topfit war. «Das vermisse ich. Als ich Spitzensport machte, war ich süchtig danach.»
An das neue Körpergefühl hat sie sich zwar gewöhnt. «Ich weiss aber, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich einmal auf eine Skitour oder wandern gehen könnte.» Ein wenig Befriedigung geben ihr Übungen für die Tiefenmuskulatur bei der Rückbildung nach der Schwangerschaft oder für die Haltung, ein bisschen dehnen – und seien es nur fünf Minuten.
Bis sie diese Akzeptanz erreichen konnte, dauerte es aber. Als Sportlerin, die um Hundertstel kämpfte, definierte sie sich über ihre Leistung. Dass sie als Mensch auch wertvoll ist, wenn sie keine Höchstleistungen mehr erbringt, musste sie erst lernen.
Diese Erkenntnis geht für sie über den Sport hinaus. Rutz-Büchel hat heute einen anderen Blick auf Menschen, die nicht zu den erfolgreichsten im Wirtschaftssystem gehören. «Unsere Gesellschaft ist darauf ausgelegt, dass wir viel leisten wollen, um uns wertvoll zu fühlen. Das ist unser Antrieb», sagt sie. Long Covid hat ihr geholfen, dazu Distanz zu gewinnen. «Ich sage nicht, dass ich davon befreit bin. Aber ich bin offener geworden.»
Auch deswegen spricht sie weiterhin über ihren Zustand. Denn das Verständnis dafür vermisst sie zuweilen. Wie tief ihr Energielevel zwischendurch tatsächlich gewesen sei, habe ausser ihrer Schwester niemand nachvollziehen können. Auch diese leidet seit Jahren an Long Covid, und das noch heftiger.
Ein Tag Arbeit – dann braucht sie wieder Erholung
Im Jahr vor der Geburt ihrer zweiten Tochter arbeitete Rutz-Büchel einen Tag pro Woche als Raumplanungszeichnerin in St. Gallen. Die Stelle passt eigentlich gut zu ihrem Zustand – sie hat dort wenig Verantwortung, erledigt ihre Arbeit am PC und geht danach wieder nach Hause. Und doch ist ein solcher Tag für sie so anstrengend, dass sie danach Erholung braucht. «Ein Tag ist das Maximum, was ich mir zutraue.»
Der Infektiologe Werner Albrich vom Kantonsspital St. Gallen sagt, dass Rutz-Büchel genau den richtigen Weg einschlage: das Leben individuell anpassen, Ruhepausen einhalten, Grenzen anerkennen. Das Wundermittel oder die eine zielführende Therapie gebe es bei Long Covid noch nicht, doch auch nach Jahren mit der Krankheit sei eine Genesung möglich.
Viereinhalb Jahre nach dem Beginn der Pandemie laufen zahlreiche Studien zur Ursache und Behandlung von Long Covid, zudem wird an Diagnosemöglichkeiten gearbeitet. Vieles an der Krankheit ist immer noch unbekannt. Einiges von dem, was man weiss, trifft aber auf Selina Rutz-Büchel zu: «Junge Frauen haben ein höheres Risiko. Und wer sich mit einer frühen Corona-Variante oder vor der Impfung angesteckt hat, bei dem geht die Erholung von Long Covid im Schnitt auch langsamer vonstatten», sagt Albrich.
Rutz-Büchel glaubt fest daran, dass sich ihr Körper mit der Zeit wieder erholen wird. Immer wieder gibt es neue Ansätze in Bezug darauf, was den Körper bei der Genesung unterstützen könnte. Die Toggenburgerin ist zurückhaltend, gelegentlich testet sie etwas Vielversprechendes. Zurzeit ist das ein Clip fürs Ohr, der den Vagusnerv beruhigen soll. Noch ist ihr Nervensystem schnell überlastet, doch es gibt kleine Verbesserungen: Vor kurzem hat sie an einem neuen Ort schon in der ersten Nacht gut geschlafen.