Kenneth Rogoff, Wirtschaftsprofessor an der Harvard University, sagt im Interview, dass die Finanzmärkte an einem Wendepunkt stehen. Seiner Meinung nach müssen sich Investoren in den kommenden Jahren auf ein Umfeld mit höherer Inflation, höheren Zinsen und ausgeprägten Kursschwankungen gefasst machen.
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Kenneth Rogoff ist einer der einflussreichsten Ökonomen der Gegenwart. Der Professor an der Harvard University und ehemalige Chefökonom des IWF hat zu verschiedensten Themen wegweisende Forschungsarbeit geleistet. Sein zusammen mit Carmen Reinhart veröffentlichtes Standardwerk «This Time Is Different» gehört zu den wichtigsten Analysen der Finanzkrise von 2008/09.
Aus der Sicht von Rogoff steuern die globalen Finanzmärkte in den nächsten Jahren auf fundamentale Veränderungen zu. «Wir treten in eine Phase ein, in der es zu höheren Kursschwankungen kommen wird», sagt er. «Wir werden nicht zu einer Welt mit verlässlich niedriger Inflation und verlässlich niedrigen Zinsen zurückkehren.»
Im Interview erklärt Rogoff, weshalb er in nicht allzu ferner Zukunft mit einem weiteren Inflationsschub wie im Nachgang der Pandemie rechnet. Auch äussert er sich zu den Auswirkungen hoher Schulden auf die Wirtschaft, zum wachsenden politischen Druck auf die Zentralbanken, zu einer potenziellen Abwertung des Dollars sowie zu den Chancen und Risiken künstlicher Intelligenz.
Herr Professor Rogoff, der Inflationsschub hat sich weitgehend gelegt, die Zentralbanken lockern die Zinsen. Können wir uns wieder auf ein «normaleres» Umfeld wie vor der Pandemie einstellen?
Naja, in der Welt vor der Pandemie war nichts normal. Die Inflation war niedriger als je zuvor in der Ära der Fiat-Währungen, und die Realzinsen waren so niedrig wie seit fünf Jahrhunderten nicht mehr. Diese Zeit war nicht normal. Niemand hätte sie jemals für normal halten dürfen. Wahrscheinlich werden wir deshalb eher in ein ähnliches Umfeld zurückkehren wie vor der globalen Finanzkrise.
Was bedeutet das konkret?
Ich kann es nicht genau sagen. Entscheidend ist, wie sich die Realzinsen entwickeln, insbesondere die langfristigen realen Zinsen. Die inflationsbereinigte Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen lag zwischen 2012 und 2021 im Durchschnitt bei null, und sie war während eines erheblichen Teils dieser Periode sogar negativ. Ein normaleres Niveau wäre gemäss dem historischen Trend 1,5% oder 2%. Das ist ungefähr das Niveau, auf dem wir uns gegenwärtig bewegen – und das bedeutet eine grosse Veränderung.
Warum rechnen Sie mit höheren Realzinsen?
Über lange Zeiträume hinweg sind die Realzinsen sehr volatil. Wenn es zu einem grossen Schock für die Wirtschaft kommt, wie nach der Finanzkrise, dann neigen sie dazu, sich über einige Jahre hinweg allmählich zu normalisieren. Das geschah nicht, weil die Pandemie ausbrach. Doch in der Vergangenheit gab es viele Phasen, in denen die Realzinsen hoch waren, und viele Phasen, in denen sie niedrig waren. Dieses Mal sind sie schlicht eingebrochen. Rückblickend erweist sich jetzt aber, dass all das Gerede über säkulare Stagnation und ewig tiefe Zinsen eine nachträgliche Rationalisierung war, die sich als falsch herausgestellt hat.
Was aber ist mit strukturellen Trends, denen ein dämpfender Effekt auf Wachstum, Inflation und Zinsen zugesprochen wird? Zum Beispiel die alternde Bevölkerung und die schwache Produktivität?
Diese beiden Faktoren korrelieren gut über die letzten Jahrzehnte, aber nicht über wirklich lange Zeiträume. Tatsächlich korrelieren sie überhaupt nicht mit den realen Zinsen. Heute entspricht meine Ansicht zu den Realzinsen mehr oder weniger dem Konsens an den Märkten. In akademischen Kreisen hingegen, wo sich die Dinge eher langsam bewegen, herrscht überwiegend immer noch die Meinung, dass wir zu 0%-Zinsen zurückkehren werden. Das hat damit zu tun, dass Akademiker politisch eher links orientiert sind und für höhere Staatsausgaben plädieren. Daher ist es bequem, zu glauben, dass man sich umsonst Geld leihen kann. Aber für mich ist das Wunschdenken.
Gerade in den USA macht sich aber nicht nur die Linke für höhere Staatsausgaben stark, sondern auch die Rechte unter Donald Trump. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Geldpolitik des Federal Reserve?
Ich glaube, dass die Inflation in den nächsten zehn Jahren im Durchschnitt höher sein wird als im vorangegangenen Jahrzehnt. Auf kurze Sicht wird es dem Fed wahrscheinlich gelingen, sie auf 2% oder in die Nähe von 2% zu drücken. Doch ich beziehe mich auf einen längeren Zeitraum. Wir leben in einer Welt, in der die Zentralbanken relativ unabhängig sind, aber das ist kein absoluter Zustand. Trends wie die De-Globalisierung, geopolitische Spannungen und die enorm hohe Verschuldung in einigen Ländern wie in den Vereinigten Staaten werden die Unabhängigkeit der Zentralbanken verringern.
Weshalb?
Zentralbanken müssen abwägen. Sie versuchen, das Risiko von Inflation, Arbeitslosigkeit und anderen Faktoren wie der Staatsverschuldung auszubalancieren. In einer Welt, in der De-Globalisierung, geopolitische Unsicherheit, Populismus und hohe Staatsschulden die Zentralbanken unter Druck setzen, verändert sich diese Balance, speziell im Fall des Fed. Es wird häufiger Situationen geben, in denen das Fed das Risiko steigender Inflation in Kauf nehmen wird, anstatt nichts gegen hohe Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Derzeit ist das noch kein Thema, aber wir werden es in Zukunft sehen. Deshalb werden wir in den nächsten zehn Jahren im Durchschnitt mehr inflationäre Ausbrüche erleben als bisher.
Das Vertrauen in die US-Geldpolitik hat ohnehin bereits Schaden erlitten, zumal das Fed die Inflation im Nachgang der Pandemie unterschätzt hatte und dann wiederholt abrupt umsteuern musste. Wie gravierend ist dieser Reputationsverlust?
Dazu muss man aber auch festhalten, dass die Zeit nach der Pandemie enorme Herausforderungen mit sich brachte. Sie zeigt jedoch auch beispielhaft auf, wie gross der politische Druck auf das Fed war, von Zinserhöhungen abzusehen. Bemerkenswerterweise wartete Präsident Biden ausgesprochen lange mit der Wiederernennung von Jerome Powell als Fed-Präsident; länger als in jedem anderen Fall in der jüngeren Geschichte. Erst dann, nachdem Powell sich komfortabel in seiner zweiten Amtszeit eingefunden hatte, erhöhte das Fed im Frühjahr 2022 endlich die Zinsen. Was auch immer das Weisse Haus nach aussen kommunizierte. Es wollte unter keinen Umständen, dass die Zinsen steigen.
In wenigen Wochen wird das Fed die Zinsen aller Voraussicht nach erstmals in diesem Zyklus senken. Was heisst das für die Märkte?
Lassen Sie es mich klar und deutlich sagen: Ich behaupte nicht, dass wir fortan immer hohe Inflation haben werden. Das Fed hat nach der Pandemie einen derart groben Fehler gemacht, dass es in Sachen Zinssenkungen für eine Weile auf die Strafbank musste, um eine Analogie zum Eishockey zu verwenden.
Und jetzt?
Das Fed wird nicht auf der Strafbank bleiben. Selbst wenn es den Zentralbanken gelingt, die Inflation einzudämmen, sollten sich Anleger realistischerweise deshalb darauf vorbereiten, dass die Inflation wahrscheinlich früher zurückkehren wird, als die meisten Prognosen vorhersagen. Ich will nicht hysterisch klingen, aber ich denke, dass wir in den nächsten sieben oder acht Jahren noch eine weitere inflationäre Episode sehen werden, wie wir sie gerade erlebt haben.
Hinzu kommt, dass die Staatsverschuldung in den USA und in anderen westlichen Ländern in den letzten Jahren nochmals deutlich zugenommen hat. Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem Schulden-Superzyklus.
Das ist richtig. Als die Realzinsen für eine gewisse Zeit bei null lagen, bewegten wir uns in einem Umfeld, in dem es schien, dass Schulden keine Kosten haben würden. Jetzt ist das nicht mehr der Fall. Wir befinden uns in einem schmerzhaften Anpassungsprozess, den keine der beiden politischen Parteien in den USA akzeptieren will. Donald Trump und Kamala Harris versuchen, sich gegenseitig darin zu überbieten, wer mehr Schulden machen kann.
Was hat das für Folgen?
Schulden waren natürlich nie kostenlos. Aber jetzt befinden wir uns in einer Umgebung, in der sie sogar aussergewöhnlich teuer sind. Wenn das Fed eine höhere Inflation toleriert, hilft das wiederum der US-Regierung, die Schulden abzubauen. Auch das spricht für wachsenden politischen Druck auf die Geldpolitik. Zudem: Als der ehemalige Fed-Chef Paul Volcker 1980 die Zinsen anhob, betrug die US-Staatsverschuldung etwa 30% des BIP, heute sind es mehr als 120%. Trotz der vorteilhafteren Voraussetzungen war es bereits für Volcker alles andere als einfach, die Inflation einzudämmen, und wir wissen, dass die Aktienmärkte hohe Zinsen nicht mögen.
Welche Rolle spielen hohe Staatsschulden hinsichtlich des Wirtschaftswachstums? Auf diesem Gebiet haben Sie zusammen mit Carmen Reinhart die wissenschaftliche Debatte im Nachgang der Finanzkrise massgeblich geprägt.
Wir haben festgestellt, dass Länder mit einer Verschuldung von mehr als 90% des BIP geringere durchschnittliche Wachstumsraten aufweisen als Länder mit einer Verschuldung von weniger als 90%. Doch es ist ähnlich wie mit einem hohen Cholesterinspiegel. Wenn er über 200 steigt, stirbt man nicht gleich am nächsten Tag an einem Herzinfarkt. Genauso muss man auch nicht zwangsläufig in einen Unfall geraten, wenn man mit dem Auto einen Kilometer pro Stunde über der Tempo-Limite fährt. Wir haben dies in unseren Studien betont. Was wir nicht ausreichend berücksichtigt haben, waren die Auswirkungen hoher Schulden auf die Inflation. Doch inzwischen gibt es dazu eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur.
Und warum genau belasten hohe Staatsschulden das Wachstum?
Erstens kommt es zu einem Verdrängungseffekt, der private Investitionen verringert. Zweitens besteht weniger Spielraum für Stimulusmassnahmen während schweren Rezessionen oder Finanzkrisen, wodurch sich der Erholungsprozess verlangsamt. Aber um klarzustellen: Ein Budgetdefizit ist kurzfristig gut für Wachstum. Genauso kann es glücklich machen, viel Geld auszugeben. Aber man fühlt sich nicht glücklich, wenn man hohe Schulden hat. In der breiten Öffentlichkeit und speziell von Kritikern unserer Befunde werden diese beiden Aspekte gerne verwechselt. Manche Ökonomen haben einfach die Behauptung aufgestellt, Geld sei immer gratis.
Die extremste Version dieser Ansicht ist die Modern Monetary Theory, wonach sich ein Land mit eigener Währung nicht um seine Schulden zu kümmern brauche. Heute spricht allerdings kaum noch jemand davon.
De facto ist die Modern Monetary Theory jedoch nicht allzu weit von dem entfernt, was heute als Mainstream in der ökonomischen Debatte gilt. Olivier Blanchard beispielsweise sagte bei seiner Antrittsrede als Präsident der American Economic Association im Jahr 2019, dass Länder wie Italien und Portugal grössere Defizite aufweisen können und ihre Steuern nicht erhöhen müssen. Der US-Ökonom Paul Krugman hört sich ziemlich ähnlich an. Er kritisiert zwar die Modern Monetary Theory, doch seine Empfehlungen lauten im Prinzip, viel höhere Schulden zu machen.
Entscheidend ist demnach das Ausmass der Schulden?
Genau. Ich weiss nicht, wie ich es politisch korrekt ausdrücken soll, doch ich sage es so: Jeder isst gerne, aber niemand will übergewichtig sein. Anders gesagt: Es ist gut, wenn die Regierung das Budgetdefizit in einer Rezession erhöht, aber es ist nicht gut, mit hohen Schulden in eine Rezession zu gehen. Wenn es also zu einem Abschwung kommt, sollte der Staat mehr Geld ausgeben. Man will diese Möglichkeit nutzen, wenn man sie braucht. Das bedeutet aber nicht, es sei harmlos, hohe Schulden zu haben; und es ist auch nicht annähernd harmlos, sondern ein erhebliches Problem.
Momentan nehmen Befürchtungen einer Rezession in den USA zu. Wie werden sich die hohen Staatsschulden auswirken, falls dem Fed eine sanfte Landung misslingt?
Die Gefahr einer Rezession nimmt zu, was aber nicht heisst, dass sie hoch ist. Meiner Meinung ist die Wahrscheinlichkeit eines Abschwungs auf etwa 25% gestiegen, aber nicht auf 70%. In anderen Regionen der Welt hat sich die Konjunktur stärker abgeschwächt. In Deutschland zum Beispiel gibt es seit einiger Zeit fast kein Wachstum mehr, und Japan ist ebenfalls anfällig.
Trotzdem: Unter den grössten Volkswirtschaften haben nur Japan und Italien höhere Staatsschulden als die USA. Was passiert, falls es dennoch zum Abschwung kommt?
Das Fed hat gegenwärtig viel Spielraum, um die kurzfristigen Zinsen zu lockern. Ich glaube aber nicht, dass die langfristigen Zinsen deutlich sinken werden. Dies, zumal die Leute gerade gesehen haben, was nach der Pandemie mit der Inflation passiert ist. In der Rezession von 2020 fiel die nominale Rendite zehnjähriger Treasuries auf ein Rekordtief von weniger als 1%. Das wird sich nicht wiederholen. Im Tiefpunkt des nächsten Abschwungs könnten die langfristigen Zinsen auf rund 3,25% sinken. Das würde bedeuten, dass die US-Regierung wesentlich weniger Handlungsspielraum hätte, um die Wirtschaft zu stützen.
Inwiefern hängt der Ausblick für die Wirtschaft und die Finanzmärkte davon ab, wer die Präsidentschaftswahlen Anfang November gewinnt?
Wir werden sehen. Offensichtlich ist, dass Kamala Harris eine expansive Wirtschaftspolitik anstrebt. Sie gehört zu den progressiven Demokraten aus Kalifornien, die gerne Geld ausgeben und das Budgetdefizit aufblähen. Trump verstehe ich schlichtweg nicht. Ich kann daher nicht sagen, wie seine Politik aussehen würde. Er will offenbar die Steuern senken, aber selbst da würde ich nicht so tun, als würde ich verstehen, worum es ihm geht. Es ist klar, dass er keine Ideologie hat, ausser, was sein Ego betrifft. Er hört auch nicht auf seine Berater, was Prognosen zu seinem Programm ebenfalls schwierig machen.
Trump und vor allem sein Vizekandidat J.D. Vance glauben, dass eine Abwertung des Dollars ein Revival der amerikanischen Industrie ermöglichen wird. Was halten Sie davon?
Wechselkurse sind extrem schwer vorherzusagen. Doch ich glaube, dass sich der Dollar abwerten wird, gleichgültig, wer Präsident ist. Das liegt daran, dass der Dollar seit über zwanzig Jahren nicht mehr so teuer war. Letztmals notierte er 2002 auf ähnlich hohem Niveau, und davor 1985. Es fühlt sich also nach dem Höhepunkt in diesem Zyklus an. Ob ein schwächerer Dollar für die USA generell gut wäre, ist nicht klar. Ein tieferer Kurs wäre aber gesund für das globale Finanzsystem, denn er stimuliert den Handel und Finanzierungen. Aber eben: Ich glaube nicht, dass der Präsident die Kontrolle darüber hat.
Welche Auswirkungen hätte eine Abwertung auf den Status des Dollars als globale Reservewährung? Könnte sich der Trend zur «Entdollarisierung» in China und in anderen aufstrebenden Volkswirtschaften dadurch beschleunigen?
Die Amerikaner nehmen dieses Thema nicht ernst genug. Die Tatsache, dass die Entdollarisierung nicht von heute auf morgen stattfindet, verleitet zu grosser Selbstgefälligkeit. Momentan kann man zwar nicht von einer nennenswerten Entdollarisierung sprechen, doch es könnte durchaus dazu kommen; nicht zu einer vollständigen Auflösung des dollarbasierten Systems, aber zu einer Verringerung der Dominanz des Greenbacks. Aber nochmals: Der Dollar ist derzeit sehr teuer, was für die Weltwirtschaft wenig förderlich ist. Es wäre gut, wenn er sich etwa in der Grössenordnung von 10% abschwächen würde.
Kommen wir noch auf ein anderes Thema: Als hochdotierter Schachspieler beschäftigen Sie sich seit langem mit künstlicher Intelligenz. Wie erleben Sie den technologischen Fortschritt durch grosse Sprachmodelle wie ChatGPT?
Schach war lange Zeit an der Spitze der Entwicklung im Bereich künstliche Intelligenz und ist es auch heute noch. Die Fortschritte sind verblüffend. Besonders erstaunlich ist, dass sie einfach nicht stoppen. Basierend auf dem, was ich beim Schach beobachtet habe, stehen wir bei diesen grossen Sprachmodelle erst am Anfang. Aus meiner Sicht ist das nicht zwingend ein Grund für Optimismus, doch ich rechne damit, dass die Entwicklung von KI sehr, sehr schnell voranschreiten wird.
Wie könnte sich dies auf makroökonomische Faktoren wie Produktivität, Wachstum, Inflation und Zinsen auswirken?
Wir wissen es nicht. Auf einer Ebene könnte es zu einem ähnlichen Effekt wie bei der Globalisierung kommen mit sinkenden Preisen und höherer Arbeitslosigkeit in westlichen Ländern. Es besteht auch die Möglichkeit, dass KI zu noch mehr gesellschaftlichen Spannungen führt, zu mehr Streiks und Populismus und zu Versuchen, sich dagegen zu wehren.
Lässt sich der technologische Fortschritt denn überhaupt stoppen?
Widerstand hat bei der Industrialisierung nicht funktioniert, doch KI ist anders. Die Auswirkungen werden viel grösser sein als bei der Industrialisierung. Eine Periode anhaltender sozialer Unruhen ist daher gut vorstellbar. In diesem Fall ist künstliche Intelligenz wirtschaftlich destabilisierend und dürfte die Inflation in die Höhe treiben. Und leider könnte die militärische Nutzung an erster Stelle kommen, was ein schrecklicher Gedanke ist.
Sprechen Sie sich deshalb für eine stringente Regulierung von KI aus?
Ja, wobei ich eine Parallele zum Finanzsektor ziehe: Nach der Finanzkrise wurde eine Regulierung eingeführt, die Neandertaler-Charakter hatte; sehr primitiv und grob. Doch als die Pandemie ausbrach, ist keine grosse Bank zusammengebrochen. Es stand ausser Frage, dass die Regulierung dazu beigetragen hat, die anfängliche Panik zu überstehen. Es sollte uns deshalb nicht gross kümmern, wenn wir heute künstliche Intelligenz überregulieren. Wenn wir deswegen dann im Jahr 2100 fünf Jahre hinter den Fortschritten zurückliegen, die wir sonst erreicht hätten, spielt das doch keine Rolle.
Was sollte man als Investor aus diesem Gespräch als Schlusspunkt mitnehmen?
Wir stehen an einem Wendepunkt. Wir treten in eine Phase ein, in der es zu höheren Kursschwankungen kommen wird. Wir werden nicht zu einer Welt mit verlässlich niedriger Inflation und verlässlich niedrigen Zinsen zurückkehren. Angesichts von höherer Inflation und höheren Zinsen werden sich die Märkte volatiler verhalten. Die Geopolitik ist bereits weniger berechenbar geworden – und wer weiss schon, was als Nächstes passiert?
Kenneth Rogoff