In Frankreich liess ein Mann seine Frau über Jahre von Fremden vergewaltigen. Wie ist so etwas möglich? Viele Sexualstraftäter zeigten sadistische oder narzisstische Wesenszüge, erklärt der Zürcher Psychiater Elmar Habermeyer.
Es ist ein schockierender Fall: Der heute 71-jährige Dominique Pélicot hat seiner Ehefrau über Jahre hinweg narkotisierende Medikamente ins Abendessen gemischt und die betäubte Frau dann von fremden Männern vergewaltigen lassen. Während in Avignon der Prozess gegen Pélicot und 50 Mittäter gestartet ist, kommt die nächste Schreckensmeldung aus Polen. Hier soll ein Mann eine junge Frau jahrelang im Schweinestall festgehalten und vergewaltigt haben. Der forensische Psychiater Elmar Habermeyer von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich beleuchtet die Motive und Persönlichkeiten von Sexualstraftätern.
Herr Habermeyer, was treibt Sexualstraftäter an?
Wenn wiederholt sexuelle Übergriffe stattfinden, dann müssen wir davon ausgehen, dass sich das Interesse der Täter nicht auf Sex alleine bezieht. Häufig werden auch Aggressionen ausgelebt. Zusätzlich zur sexuellen Komponente wollen die Täter nicht selten auch Macht ausüben, andere kontrollieren und in Angst versetzen. Ihnen ist wichtig, dass andere Menschen vollkommen verfügbar sind.
Es geht also gar nicht um von der Norm abweichende Sexualpraktiken?
Nur zum Teil. Das Phänomen Sexualdelikte ist sehr heterogen. Man kann die allermeisten dieser Taten nicht allein darauf zurückführen, dass jemand spezielle Sexualphantasien hat und sich nicht beherrschen kann. Es gibt viele Menschen, die Phantasien haben, die sie nicht umsetzen können, und die keine Delikte begehen. Man kann daher bei Sexualstraftätern in der Regel noch andere Faktoren identifizieren, die die Taten begünstigen.
Gibt es typische Täterpersönlichkeiten?
Oftmals entdecken wir antisoziale und auch stark narzisstisch geprägte Denk- und Verhaltensmuster: Die Täter kreisen ausschliesslich um sich selbst und ihre Bedürfnisse. Viele können mit Gefühlen wie Enttäuschungen oder Wut nicht umgehen, sie suchen sich dann ein schwächeres Opfer, um das auszuleben. Bei dem Fall in Frankreich liegt nahe, dass es um Machtausübung und Kontrolle geht. Es gibt sadistische Motive. Die Täter befriedigt und erregt, andere zu erniedrigen und zu demütigen.
Was sind die Ursachen solcher Persönlichkeiten?
Auch das ist vielfältig. Hat zum Beispiel eine Person oft Hilflosigkeit oder Ohnmacht erfahren, dann kann sich bei ihr ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle anderer entwickeln. Andere können mit Grenzsetzungen schwer umgehen, also ein Nein nicht akzeptieren. Und dann gibt es jene Menschen, die sehr früh sexuelle Erfahrungen gemacht haben, oft auch Missbrauch erleben mussten. Oder ihre sexuellen Erfahrungen waren sehr unpersönlich und haben nie in einer gleichberechtigten Beziehung stattgefunden. So kann es zu einer gestörten Sexualentwicklung kommen. Viele Faktoren führen dazu, dass bei einem Menschen Persönlichkeitsanteile fehlen, die den Grossteil von uns sozial agieren lassen.
Fehlt den Tätern jegliches Schuldgefühl?
In der Regel wissen Menschen, die Sexualdelikte begehen, durchaus, dass das verboten ist und nicht legitim ist. Aber entweder haben sie wenig Empathie, und es ist ihnen egal, was ihre Opfer fühlen. Oder sie bagatellisieren das mit der Zeit. Wir nennen das Selbstkorrumpierung. Die Täter reden sich Dinge ein wie: Es gibt ja noch mehr Leute, die da mitmachen, also ist es doch legitim. Oder: Ich habe das Opfer vorher betäubt, sie hat also gar nichts mitbekommen. Es gibt Sexualtäter, die als Kind selbst missbraucht wurden und sich einreden, dass es ihnen nicht geschadet habe oder gar nicht so schlimm gewesen sei.
In vielen der in den letzten Jahren bekanntgewordenen brutalen Fälle von sexuellen Misshandlungen hat ein Mann sein Opfer anderen Männern angeboten. Was sind das für Männer, die ein derartiges «Angebot» annehmen?
Auch diese dürften in das beschriebene sadistische Täterprofil passen. Alle diese Männer sehen und leben Sexualität nicht als einvernehmliche Interaktion zwischen gleichberechtigten Erwachsenen. Bei diesen Personen wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine Frauen abwertende Haltung vorhanden sein.
Wie häufig sind denn solche Fälle von speziellen sexuellen Gelüsten, gepaart mit Machtphantasien, Kontrollwahn oder den anderen von Ihnen erwähnten Wesenszügen?
Solche Fälle werden deswegen so massiv medial beleuchtet, weil sie sehr ungewöhnlich sind. Also müssen wir zunächst davon ausgehen, dass es sehr selten ist, dass jemand Sexualität gewalttätig oder mit Machtgelüsten auslebt. Aber ich glaube, dass Sexualität, verbunden mit einem gewissen Gefühl des Sichauslieferns oder dem Wunsch, eine Situation zu kontrollieren, relativ häufig ist. Das sieht man beispielsweise auch an dem Markt für entsprechende Produkte in Sexshops. Solange solche Bedürfnisse einvernehmlich gelebt und als befriedigend empfunden werden, ist das kein Problem. Erst wenn es darum geht, Gewalt gegen den Willen anderer oder auch gegenüber einer wegen Krankheit oder Drogeneinfluss nicht einwilligungsfähigen Person auszuüben, wird es zum Problem.
In vielen Fällen filmt der Täter ja auch die erzwungenen sexuellen Handlungen, so auch Pélicot. Was bedeutet das?
Hier gibt es oft ein voyeuristisches Interesse. Zum einen kann den Täter die Wehrlosigkeit des Opfers erregen. Zum anderen liefert ihm dies aber auch Befriedigung seiner Machtphantasien: Ich kann mit jemandem machen, was ich will. Im Fall Pélicot dürfte das noch durch die Tatsache gesteigert worden sein, dass das Opfer durch die Betäubung vollkommen wehrlos war.
Also geht es gar nicht darum, dass jemand seine Sexphantasien durch selber ausgeführte Sexualhandlungen auslebt?
Das voyeuristische Element verschafft auch eine sexuelle Befriedigung. Wir wissen ausserdem nicht, was Pélicot gemacht hat, wenn er später die Videos angeschaut hat. Ich erwarte, dass solche häufigen Aufnahmen für ihn wichtig waren. Denn sie zu horten, erhöhte ja das Risiko, entdeckt zu werden. Er wird sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit angeschaut haben. Für mich liegt die Vermutung nahe, dass das auch mit sexuellen Intentionen verknüpft war.
Geht es bei der Betrachtung der Videos nur um sexuelle Erregung?
Ich denke nicht. Es geht sicher auch darum, das Machtgefühl auszukosten. Die Tatsache, dass er in der Lage war, solch ein Szenario immer und immer wieder zu gestalten, dürfte sein Selbstwertgefühl stark erhöht haben. Vielleicht wollte er sich auch in einer gewissen Szene einen Ruf schaffen und damit Bedeutung erlangen. Er hat ja seine betäubte Frau sehr vielen Männern angeboten.
Was mich immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, dass viele Täter über Jahre hinweg die brutalen Handlungen begehen. Wieso können sie das so lange verstecken? Sind sie besonders schlau?
Das denke ich nicht. Diese vermeintliche intellektuelle Grösse, wie sie häufig in Krimis dargestellt wird, erschliesst sich mir aus meinen Begegnungen mit Sexualstraftätern nicht. Das sind meist Menschen, die eine gewisse Geschicklichkeit haben, Dinge zu verbergen. Oftmals haben sie auch ein Gespür dafür, wer noch hilfloser oder weniger leistungsfähig ist als sie. Viele können überzeugend lügen und sind sehr manipulativ. Manchmal traut man ihnen ihre Taten gerade deshalb nicht zu, weil sie nicht so schlau sind. Wieder andere haben einfach nur Glück, dass sie nicht entdeckt werden.
Gibt es denn Warnzeichen, auf die Freunde, Verwandte, Nachbarn achten können?
Im Nachhinein erkennt man häufig bestimmte Warnzeichen. Wenn man die Entwicklungsgeschichte betrachtet, gibt es bestimmte Punkte, an denen Komponenten auftauchen, die bedenklich, aber noch nicht so drastisch sind. Zum Beispiel erste Anzeichen für nicht mehr einvernehmliche Sexualpraktiken mit Gewalthandlungen. Da sich so etwas im Privaten abspielt, ist es sehr schwierig, das von aussen zu bemerken. Ich glaube zudem, dass in der heutigen Zeit die soziale Kontrolle häufig erschwert ist. Oftmals sind auch die Lebensumstände relativ anonym. Hinzu kommt: In der Familie gibt man einander einen Vertrauensvorschuss. Sexualtäter suchen sich häufig Partnerinnen, die besonders vertrauensselig und wenig wehrhaft sind, denn die können sie leichter dominieren. Man darf aber auf keinen Fall damit anfangen, eine Mitschuld beim Opfer zu suchen.