Erstmals seit 2017 bleibt Novak Djokovic ohne Grand-Slam-Titel. Doch Experten warnen davor, den Serben bereits abzuschreiben.
Die Grand-Slam-Saison endete in der Nacht auf den Montag in New York gleich, wie sie rund acht Monate zuvor in Melbourne begonnen hatte: mit einem Sieg von Jannik Sinner. Der erst 23-jährige Südtiroler schlug im Final des US Open den Amerikaner Taylor Fritz glatt in drei Sätzen und zerstörte damit die Hoffnung des einheimischen Publikums, 21 Jahre nach dem Sieg des jungen Andy Roddick im Big Apple wieder einmal einen Sieg eines Amerikaners bejubeln zu können.
Nichts war es damit. Sinner war schlicht zu stark für den bereits 26-jährigen Amerikaner. Mit seinem zweiten Major-Sieg baute er seinen Vorsprung an der Weltranglistenspitze auf 4105 Punkte aus. Das entspricht dem Gegenwert von zwei Grand-Slam-Siegen. Die beiden anderen grossen Titel der Saison, jener auf Sand in Roland-Garros und jener auf Rasen in Wimbledon, gingen an den Spanier Carlos Alcaraz, der noch zwei Jahre jünger ist als Sinner und doch schon bei vier Major-Titeln steht. Trotzdem ist Alcaraz im Ranking noch hinter dem Deutschen Alexander Zverev derzeit nur die Nummer 3.
Sinner und Alcaraz waren die beiden grossen Dominatoren der bisherigen Saison. Neben den vier Grand-Slam-Turnieren gewannen sie gemeinsam neun Turniere, darunter auch die ATP-1000-Events von Miami, Cincinnati (Sinner) und Indian Wells (Alcaraz). Die anderen drei wichtigen Turniere in Rom, Madrid und Monte-Carlo gingen an den Deutschen Alexander Zverev, den Russen Andrei Rublew und den Griechen Stefanos Tsitsipas.
Verpasst Novak Djokovic sogar die ATP-Finals?
Novak Djokovic fehlt in dieser Liste. Er gewann zwar vor rund einem Monat Olympia-Gold in Paris und schloss damit die letzte echte Lücke in seinem eindrücklichen Palmarès. Doch gemessen an seiner langjährigen Dominanz ist das eine überraschend karge Ausbeute für den erfolgsverwöhnten Serben. In der Jahreswertung, die am Ende des Jahres darüber entscheidet, welche acht Spieler an den ATP-Finals in Turin teilnehmen dürfen, liegt Djokovic momentan nur auf Platz 9 und wäre damit an diesem letzten grossen Rendez-vous der Tennissaison im November nicht dabei.
Noch ist die Tennissaison aber nicht vorbei. Neben den Swiss Indoors in Basel (ATP 500) stehen unter anderem auch noch die ATP-1000-Turniere von Schanghai und Paris-Bercy auf dem Programm. Djokovic bleibt noch genügend Zeit, sich für Turin zu qualifizieren. Die Frage ist wohl eher, wie gross seine Lust ist, sich noch einmal zusammenzuraufen. In New York scheiterte er als Titelverteidiger am Australier Alexei Popyrin so früh wie lange nicht mehr an einem Major-Turnier. Nach dem Match sagte er: «Gemessen daran, wie ich mich gefühlt und wie ich gespielt habe, ist es nur schon ein Erfolg für mich, hier überhaupt die dritte Runde erreicht zu haben.»
Erstmals seit 2017 bleibt der Serbe damit ohne Major-Titel. Den Rekord von insgesamt 24 Siegen teilt er sich mit der Australierin Margaret Court. Erstmals seit 2002 wird eine Saison zu Ende gehen, ohne dass einer der grossen drei (Federer, Nadal, Djokovic) mindestens eines der Major-Turniere gewonnen hat. Der Umbruch im Männertennis, den so viele schon so lange erwartet haben, scheint nun endgültig da zu sein.
Das überrascht Heinz Günthardt nicht. Der Zürcher, der die Tennisszene seit seinem Rücktritt als Trainer und Analyst für verschiedene Medien verfolgt, sagt: «Wenn mich etwas überrascht, dann allenfalls, dass es so lange gedauert hat, bis die neue Ära angebrochen ist. Dass wir es als Überraschung bezeichnen, dass Novak keinen grossen Titel auf der Tour gewonnen hat, zeigt letztlich nur, wie grossartig seine Leistungen zuvor gewesen waren.»
Djokovics verpasste Chance im Sommer 2021
Carlos Alcaraz und Jannik Sinner sind jene beiden Spieler, welche den Tennissport in die nächste Epoche führen dürften. Beide sind in einem Alter, in dem sie den Zirkus problemlos über zehn Jahre dominieren können. Günthardt sagt, bei beiden habe man bereits vor mehreren Jahren gesehen, dass sie das kleine Etwas hätten, das sie von ihren Konkurrenten abhebe. «Sie sind um eine Spur besser als Alexander Zverev, Stefanos Tsitsipas oder Taylor Fritz, die ebenfalls hervorragende Tennisspieler sind.»
Gleichzeitig allerdings warnt Günthardt davor, Djokovic bereits definitiv abzuschreiben. «Ich traue ihm problemlos zu, noch den einen oder anderen weiteren Major-Titel zu gewinnen und damit den alleinigen Rekord an sich zu reissen.» Gleichzeitig glaube er allerdings nicht, dass er die Tour noch einmal derart dominieren könne, wie er das in den vergangenen zehn Jahren getan habe.
Vor drei Jahren fehlte dem Serben in New York ein einziger Sieg, um als erster Spieler seit dem Australier Rod Laver den Kalender-Grand-Slam, alle vier grossen Titel innerhalb eines Kalenderjahres, zu gewinnen. Dann zerbrach er, die Geschichte vor Augen, am Druck und verlor im Final gegen Daniil Medwedew. Zumindest dieses eine grosse Ziel dürfte selbst der Ausnahmeathlet Djokovic nicht mehr erreichen.