Das Ende der Sowjetunion hat dem Land in Mittelasien politische und kulturelle Unabhängigkeit gebracht. Unterdessen ringt es um eine Identität, die die Zukunft mit der reichen Tradition verbindet.
An diesem Spätsommerabend herrscht eine lauschige Stimmung in Samarkand, an der Seidenstrasse Usbekistans. Die bunten Scheinwerfer der Lichtshow huschen im Rhythmus der Musik über Koranverse an den Wänden der Medressen. Und hoch oben sieht man in den grossen, offenen Fenstern der Koranschulen Frauen in farbenfrohen Gewändern tanzen.
Die Medressen, traditionell Orte der religiösen Unterweisung und des Koranstudiums, bilden nun die Kulisse für eine beeindruckende Synthese aus Geschichte und Gegenwart. Aber nicht allen gefällt das. Ich spüre, wie ein saudischer Journalist neben mir unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutscht und wie sich sein Blick verfinstert. Nach der Vorstellung dreht er sich zu mir um und sagt mit einem Anflug von Empörung: «Wie können sie einen heiligen Ort des Islams in eine Disco verwandeln? Das ist Blasphemie!»
Die Szene spielt sich auf Samarkands majestätischem Registan-Platz mit seinen drei Medressen ab, der einst ein Zentrum für Gelehrsamkeit und Spiritualität, später ein Marktplatz war und heute als Top-Sehenswürdigkeit jeder Usbekistan-Reise gilt. Hier findet seit 1997 auch alle zwei Jahre das Musikfestival Sharq Taronalari (Melodien des Orients) statt, bei dem über 25 Länder ihre folkloristische Musik und ihre Tänze präsentieren.
Russland ist kein Tabu
Die Ankunft des Präsidenten Shawkat Mirziyoyew wird hier mit heftigem Applaus quittiert. Auf den grossen Bildschirmen auf beiden Seiten des Platzes sind gleichzeitig patriotische Aufnahmen zu sehen: die imposanten Bauprojekte Taschkents, prachtvolle Bauwerke der Timuriden-Dynastie, dazwischen die Bilder von Staatsbesuchen politischer Würdenträger, unter ihnen auch Wladimir Putin. In Usbekistan ist Russland kein Tabu, im Gegenteil. Russisch hört man ohnehin fast überall. Und der russische Botschafter zählt genauso zu den Ehrengästen des Festivals wie der Schweizer Botschafter.
Die Ansprache des Präsidenten aber erfolgt auf Usbekisch, Übersetzungshilfen stehen dabei nur einem ausgewählten Kreis von Diplomaten und hochrangigen Gästen in den vorderen Reihen zur Verfügung. Meine Kenntnisse der Sprache und der Geschichte des Landes sind bloss rudimentär, dennoch kann ich einige Schlüsselbegriffe erfassen: etwa den Hinweis des Präsidenten darauf, dass das Festival das «humanistische Wesen des Islams» zeige.
Der Begriff «humanistischer Islam» scheint heute die Essenz vom Verhältnis Usbekistans zur Religion einzufangen. Das Land mit seiner reichen und wechselvollen Geschichte trägt die Spuren vieler Epochen und Glaubensrichtungen. Der Zoroastrismus hat hier ebenso seine Spuren hinterlassen wie der Islam, der seit dem 8. Jahrhundert das Land prägt. Aber auch Juden und Christen fanden in den usbekischen Gefilden ihre Heimat. Die Sowjetzeit mit ihrem offiziell verordneten Atheismus fügte eine weitere Schicht hinzu. Und nun, in den jungen 33 Jahren der Unabhängigkeit, sucht eine neue Generation von Usbekinnen und Usbeken ihre Identität zwischen Tradition und Moderne.
Unter der Herrschaft von Islam Karimow (1938–2016), dem langjährigen Präsidenten Usbekistans, befand sich der Islam fest in staatlicher Hand. Der muslimische Gebetsruf Adhan und das Tragen des Hijabs in der Öffentlichkeit waren verboten. Nach Karimows Tod wurden im Zuge einer vorsichtigen Öffnung des Landes auch Religionsreformen eingeleitet.
Die Liberalisierung, obwohl vorsichtig dosiert, hatte jedoch unbeabsichtigte Folgen. Während der Staat versuchte, eine «säkulare» Interpretation des Islams zu fördern, nutzen illiberale islamische Strömungen die neu gewonnene Freiheit der Medien, um ihr konservatives Verständnis des Islams zu verbreiten. So predigen Imame auf sozialen Plattformen nun etwa die Vorzüge eines konservativen Erscheinungsbilds für Frauen und preisen das Verhüllungsgebot.
Als ich vor wenigen Jahren durch Usbekistan reiste, waren noch kaum Frauen auf den Strassen Bucharas und Samarkands zu sehen, die sich ihre Haare bedeckten. Heute aber gehört der Hijab zum Strassenbild. «Viele Usbekinnen und Usbeken verspüren einen regelrechten Hunger nach Religion», erklärt Asliddin Yunusow, ein junger Historiker aus der Provinz Nawoi. Einen Grund hierfür sieht er darin, dass aufgeklärte Usbeken zwar Verständnis für Islam Karimows Politik gehabt hätten, aber bemängelten, dass er – im Gegensatz zu Kemal Atatürk, dem Begründer der Republik Türkei – nicht genug in Bildung und Aufklärung investiert habe.
Um gegen illiberale islamische Strömungen vorzugehen, hat das usbekische Komitee für religiöse Angelegenheiten eine Liste von Materialien, Texten und Foren veröffentlicht, die als extremistisch und terroristisch eingestuft wurden und in Usbekistan verboten sind. Dazu gehören Telegram- und Youtube-Kanäle, Facebook, Instagram und Tiktok sowie religiöse Websites, Bücher und Lieder, sogenannte Nasheeds. Bemerkenswert ist, dass auf dieser Liste zahlreiche Kanäle und Plattformen figurieren, die von westlichen Behörden kaum beanstandet werden. Jüngstes Beispiel sind jihadistische Nasheeds, die sich der Attentäter von Solingen im Asylheim anhören konnte.
Bedrohte Frauenrechte
Nicht nur muslimische Besucher aus anderen Ländern kritisieren den ambivalenten Umgang Usbekistans mit dem Islam, sondern auch Menschenrechtsorganisationen. Laut Human Rights Watch wird die Religionsfreiheit von der usbekischen Regierung weiterhin eingeschränkt, die Behörden schätzten selbst gemässigte Formen von Religiosität als «Extremismus» ein.
Die Kritik stösst bei vielen Usbekinnen und Usbeken auf Unverständnis. «Wir sind nicht gegen den Islam, sondern gegen den fundamentalistischen Islam», erklärt mir eine junge Frau, die ich als freiwillige Helferin am Festival in Samarkand treffe. Sie studiert Sprachen am Samarkand State Institute of Foreign Languages. Es sei immer einfacher, aus der Distanz zu kritisieren, fährt sie fort. Aber ihr gehe es vor allem auch um die Frauenrechte in Usbekistan.
Usbekische Feministinnen blicken mit Sorge nach Afghanistan. Als das Taliban-Regime dort im August 2021 erneut an die Macht kam, gab es vereinzelte Jubelszenen in der usbekischen Grenzregion zu Afghanistan – die Beteiligten wurden umgehend verhaftet. Für aufgeklärte usbekische Frauen ist Afghanistan tatsächlich eine schmerzhafte Erinnerung an ihren eigenen Kampf.
In den 1920er Jahren initiierte die sowjetische Regierung die Hujum-Kampagne, eine umfassende Bewegung zur Emanzipation der Frauen in Zentralasien. «Hujum» bedeutet «Angriff» auf Usbekisch. Die Kampagne zielte darauf ab, Verschleierung, Kinderehen und die Benachteiligung von Frauen in Sachen Bildung zu bekämpfen.
Eine zentrale Rolle spielte dabei der Kampf gegen die Paranja, den traditionellen Ganzkörperschleier der Frau. Trotz offizieller sowjetischer Unterstützung war es ein langwieriger und gefährlicher Kampf. Frauen, die sich der Hujum-Bewegung anschlossen und öffentlich ihre Paranjas ablegten, wurden oft Ziel von Angriffen durch konservative Muslime. Viele bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben.
«Die Hujum-Bewegung war ein Wendepunkt in unserer Geschichte», erzählt mir Gulnara, eine Feministin aus Taschkent. «Sie legte den Grundstein für die Bildung und Emanzipation der usbekischen Frauen.» Die zunehmende Sichtbarkeit des Hijabs im öffentlichen Raum wird von vielen Usbekinnen mit gemischten Gefühlen betrachtet. Einerseits sehen sie darin ein Zeichen religiöser Freiheit, andererseits fürchten sie einen schleichenden Konservatismus.
Eine Synagoge in Buchara
Die religiöse Landschaft Usbekistans besteht jedoch nicht nur aus dem Islam, sie ist vielfältiger. Etwa 270 Kilometer westlich von Samarkand steht inmitten der verwinkelten Gassen Bucharas eine der ältesten Synagogen des Landes. Am Eingang empfangen uns Nationalgardisten, die unsere Taschen durchsuchen – eine neue Massnahme seit dem Krieg zwischen Gaza und Israel.
Im Inneren begrüsst uns der Rabbiner, umgeben von Büchern in Russisch und Hebräisch. Eine israelische Wochenzeitung auf dem Tisch bildet eine geistige Verbindung zum fernen Heiligen Land. Auf die Frage nach dem jüdischen Leben in Buchara antwortete der Rabbiner schlicht: «Sehr schön.» Er verweist auf die Wachen am Eingang – sie seien ein Zeichen staatlicher Fürsorge – und fügt hinzu: «Den Juden in Buchara geht es besser als jenen in Israel.»
Die nackten Zahlen zeichnen allerdings ein weniger rosiges Bild. Einst war Buchara Heimat von mehr als 20 000 Juden. Heute sind es nur noch etwa 200. Viele Juden sind bereits zur Zeit der Sowjetunion ausgewandert, hauptsächlich aufgrund der antireligiösen Politik des sozialistischen Regimes.
Die Neuerungen in der Religions- und insbesondere in der Islampolitik des postsowjetischen Landes mögen westliche Beobachter zwar ganz besonders interessieren – insbesondere auch angesichts der Entwicklungen im benachbarten Afghanistan. Doch Usbekistan hat in den letzten Jahren auch viele andere Reformen erlebt. Das gilt etwa für die Wirtschaftsreformen, die Usbekistan seit 2017 durchführt; es geht um die Öffnung der usbekischen Märkte für internationale Investoren. Die Umsetzung verläuft allerdings harzig, sie wird durch Korruption und Bürokratie gebremst. Das Risiko von Rückschlägen wird durch die anhaltende Dominanz des Staates in der Wirtschaft ebenso erhöht wie durch die starke Abhängigkeit von Rohstoffexporten.
Der deutsche Usbekistan-Kenner Bodo Thöns, der selbst in Taschkent lebt, sieht die Entwicklung dennoch positiv. Er betont, dass «der wichtigste, alles durchdringende Fortschritt» die Rückkehr Usbekistans in die Weltgemeinschaft sei. Dank den Reformen passe sich das Land an internationale Standards an.
Die sprichwörtliche Gastfreundschaft
Reisende in Usbekistan mögen die orientalischen Stereotype als ästhetische Erfahrung geniessen. Die Exotismen und Klischees sind Teil der usbekischen Selbstdarstellung und der touristischen Strategie. Doch hinter der Fassade offenbart sich ein Land im Wandel, das sich vorsichtig einer komplexen, geopolitisch aufgeladenen Welt öffnet. Usbekistan strebt nach Anerkennung für seine reiche Geschichte ebenso wie für seine jüngsten Reformen.
Doch die Zukunftsaussichten bleiben ungewiss, vernebelt von drängenden Fragen zur Religion, zur demokratischen Entwicklung und zur Einflussnahme externer Akteure. Bei allen Spannungen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Öffnung und Bewahrung bleibt immerhin die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Usbeken eine Konstante. Zusammen mit dem reichen kulturellen Erbe macht sie Usbekistan zu einem Reiseziel von unschätzbarem Wert.