Plautilla Bricci ist die erste bekannte Architektin der vorindustriellen Zeit. Die Schriftstellerin Melania Mazzucco rekonstruierte ihr bewegtes Leben im barocken Rom. Ihr Roman erscheint nun in deutscher Übersetzung.
Die zierliche Frau mit offenem Haar hält einen Zirkel und ein Skizzenblatt zwischen den gespreizten Fingern. Ihre Gesichtszüge, die weit auseinanderstehenden grossen Augen, das gefurchte kleine Kinn sind auffallend individuell. Könnte so Plautilla Bricci ausgesehen haben? In dem Frauenbildnis von Antonio Gherardi (zirka 1660) wird neuerdings nicht mehr die Allegorie der Baukunst, sondern ein Porträt vermutet.
Wir wissen zwar nichts über das Äussere der ersten Architektin der Geschichte, aber das tabakbraune Korsettkleid mit der adretten Holzperlenkette weist auf eine bürgerliche Herkunft. Zumindest passen sie zum Bild einer Frau aus dem Volk, die zu ihrer Zeit eine geachtete Baumeisterin war.
Um die erste Barockbaumeisterin einem grösseren Publikum bekannt zu machen, bedurfte es einer feministischen Schriftstellerin wie Melania Mazzucco. Die Strega-Preisträgerin von 2003 ist schon mit Künstlerbiografien über die Tochter von Tintoretto oder über Annemarie Schwarzenbach hervorgetreten. Ihr kurz vor dem Lockdown erschienener Roman «L’architettrice» war eine Sensation in Italien. Über Nacht hatte die Kunstgeschichte einen neuen weiblichen Star. Nun bringt der Folio-Verlag die deutsche Übersetzung unter dem Titel «Die Villa der Architektin» heraus.
Die Hand Gottes malt
Mazzucco lässt Plautilla Bricci persönlich zu Wort kommen, sie erzählt ihre Kindheit und ihren Aufstieg im päpstlichen Rom des 17. Jahrhunderts, einer Stadt voller Prunk und Brutalität. Der neue Bauboom unter den Päpsten aus dem Geschlecht der Barberini, Pamphilj oder Chigi, die sich wie Dynasten aufführen, lockt Künstler und Handwerker aus halb Europa in die Pilgerstadt. Auch die Vorfahren väterlicherseits sind Immigranten, Matratzenmacher aus Genua.
Plautilla Bricci kommt 1616 als drittes Kind einer mittellosen Künstlerfamilie zur Welt. Geld für ihre Aussteuer ist nicht vorhanden, dafür gibt der gichtkranke Vater Giovanni sein humanistisches Wissen und seine bei Federico Zuccari und Cavalier d’Arpino erlernte Malkunst an die gelehrige Tochter weiter.
Um seine Tochter, die kleine Votivbilder malt, in die Kunstwelt einzuführen, greift er zu einem Trick. Er schenkt den Karmelitern ein grossformatiges Andachtsbild von ihr und behauptet, das Antlitz der Madonna sei von Gottes Hand ausgeführt worden, während Plautilla geschlafen habe. Es funktioniert, die «wundersame Madonna mit Kind» wird zur Verehrung freigegeben und über dem Hauptaltar von S. Maria in Montesanto an der Piazza del Popolo ausgestellt.
Frauenfreundliche Franzosen
Plautilla Bricci bleibt zunächst bei religiösen Themen. Um sich freier bewegen zu können – Frauen dürfen unbegleitet kaum das Haus verlassen –, legt sie ein Keuschheitsgelübde ab. Dem Kloster, der schrecklichen Klausur und also dem üblichen Schicksal von unverheirateten Frauen kann sie jedoch entkommen.
Abt Elpidio Benedetti, der Bruder einer befreundeten Karmeliterin, wird ihr Protektor und angeblich ihr Geliebter. Er versorgt die Künstlerin mit Aufträgen und macht sie zu seiner Privatarchitektin. Als Sekretär und Kunstagent des regierenden Ministers Jules Mazarin, später dann auch für den Sonnenkönig, vermittelt der Diplomat italienische Talente wie Bernini nach Paris. Die französischen Kreise stehen, dank der Mutter des Sonnenkönigs, den «femmes fortes» aufgeschlossener gegenüber als die altmodischen Adelskreise im Kirchenstaat.
Plautilla Bricci wird 1655 Ehrenmitglied der angesehenen Kunstakademie San Luca, die seit 1607 als erste Einrichtung überhaupt Frauen zulässt, obgleich mit eingeschränkten Rechten. So darf sie nicht an Aktstudien teilnehmen. Sie unterhält indessen eine eigene Werkstatt mit einem Gehilfen und unterstützt ihre Familie. Sie steht im Austausch mit Pietro da Cortona und Bernini, malt nun auch Porträts, Historienbilder und entwirft monumentale Festkulissen. Elpidio ahnt ihr Potenzial und vertraut ihr den komplexen Umbau seines Stadtpalastes an, der heute noch in der Via del Monserrato 24 steht.
Ärger mit dem Baumeister
Ihre wahre Kreativität kann sie aber erst mit dem Bau seines Landhauses auf dem Gianicolo in Rom entfalten. Es wurde ihr Hauptwerk und war bis zu seiner Zerstörung während der Revolution 1849 als Kuriosum in allen Rom-Führern erwähnt. Sie entwarf die Villa in Gestalt eines mächtigen Segelschiffs, dessen Rumpf in ein in den Felssockel geschlagenes Wellenspiel taucht. In dem mit Zitronenspalieren bepflanzten Lustgarten standen ein Theater und kleine Pyramiden.
«Il Vascello» (Das Schiff) wurde das Märchenschloss genannt, und es diente als Visitenkarte des ambitionierten Abts. Natürlich verlief der Bau nicht ohne Tauziehen mit dem Capomastro Bergiola, der sich weigerte, Befehle von einer Frau auszuführen. Doch wusste sie sich durchzusetzen und zwang den empörten Vorarbeiter, ein sechsseitiges Leistungsverzeichnis vor dem Notar zu unterzeichnen. Und sie bestand auf der Anrede «Architettrice», «Architektin», was ihre Wortschöpfung war.
Nord- und Südansicht der Villa Vascello, 1676.
Als erste Frau darf sie ab 1671 einen sakralen Bau realisieren. Es handelt sich um die Seitenkapelle S. Luigi in der Nationalkirche der Franzosen in Rom, S. Luigi dei Francesi. Auch hier beweist sie Originalität, indem sie die riesige Altartafel mit dem heiligen Ludwig zwischen einem bombastischen Vorhang aus Stuck und farbigem Marmor inszeniert. Die Kapelle wird 1690 die letzte Ruhestätte für den frankophilen Abt Elpidio.
Während Mazzucco ihre Heldin als Autodidaktin darstellt, vermutet die Expertin Consuelo Lollobrigida, dass Plautilla Bricci Architekturkurse bei dem Mäzen Cassiano dal Pozzo besucht hat. Auch eine praktische Schulung in der Werkstatt von Pietro da Cortona ist denkbar, dessen Einfluss in ihren Bildern sichtbar ist. In jedem Fall war der Zugang zu einer Männerdomäne wie dem Bauwesen schwierig.
Eine Frau auf dem Baugerüst, die Kalk anrührt oder eine Maurer-Brigade befehligt, ist eine undenkbare Szene. Zugleich belegen Bauabrechnungen, dass Frauen auf der Petersdom-Bauhütte – zur Hälfte des üblichen Lohns – als Fachkräfte, Arbeiterinnen oder sogar als Lastenträgerinnen tätig waren. Sie unterstützten ihren Familienbetrieb oder ersetzten den verstorbenen Vater oder Ehemann.
Ausgelöschtes Gedächtnis
Von der einst berühmten Villa del Vascello steht heute nur noch der künstliche Felsen bei der Porta San Pancrazio. Mit der Bombardierung des «Schiffes» 1849 durch die Franzosen versank auch die Erinnerung an seine Baumeisterin Plautilla Bricci. Dass ihr Name in Vergessenheit geriet, ist aber nicht allein die Schuld der späteren männlichen Historiografen, die sie ignorierten oder ihre Werke dem mediokren Bruder Basilio zuschrieben. Elpidio gab ihre Entwürfe bisweilen für die seinigen aus, um sich vor seinem Gönner zu profilieren, darunter auch ein Vorschlag zur Gestaltung des Pincio-Abhangs, wo später die Spanische Treppe entstand: Der Entwurf sah eine stupende Stufenanlage mit doppelt geschwungenen seitlichen Rampen für die Zufahrt mit der Kutsche vor.
Warum aber nennt Elpidio in seinem 1676 publizierten Villenführer Basilio als alleinigen Architekten? Schämte er sich dafür, dass er eine Frau engagiert hatte? Plautilla Bricci liess in den Grundfesten der Villa eine Platte mit ihrem Namen eingravieren. Als hätte sie es geahnt. Zum Glück hat eine Abschrift überlebt.
Mazzucco war 2002 zufällig über den Namen gestolpert, als sie sich mit den letzten Tagen vor der Zerstörung der Villa beschäftigte. «Als ich entdeckte, dass eine Frau die Villa gebaut hatte, die Symbol der Verteidigung der Republik gegen den Kirchenstaat wurde, liess mich dieser Name nicht mehr los.» Über ein Jahrzehnt hat die Literaturhistorikerin Archive und Depots durchforstet, um Leben, Umfeld und Werke der verschollenen Künstlerin getreu zu rekonstruieren.
Sie hatte die falschen Förderer
Nicht nur wegen der reichen Quellensammlung, die sie auf der Verlags-Website zur Verfügung stellt, gewann die Biografie 2020 den Silvia-Dell’Orso-Preis als bestes populärwissenschaftliches Buch. Sie löste einen regelrechten Forschungsboom aus und regte zu einer Ausstellung im Palazzo Corsini an, wo 2021/22 erstmals Plautilla Briccis Werke gezeigt wurden. Inzwischen konnten weitere Werke der Architektin zugeschrieben und ihr Todesjahr auf November 1692 korrigiert werden. Sie war bis zum Schluss tätig, starb zu Hause und nicht im Kloster in Trastevere wie im Roman. Nicht erwiesen ist die Liebesbeziehung, die sich gemäss der Autorin in Elpidios Testament offenbart, «weil er sie bedachte, wie es gewöhnlich die zur Ehelosigkeit verdammten Prälaten mit ihren Kurtisanen machten: mit einem lebenslangen Wohnrecht».
Der Fall Plautilla Briccis wirft die Frage auf, welche moralischen und ästhetischen Filter die Historiografie ansetzt. Wer also in den Olymp der memorablen Künstler aufgenommen wird und wer nicht. Natürlich war weibliche Kreativität ausserhalb des Hauses kein Modell, das vermittelt werden sollte. Selbst die anerkannten Künstlerinnen Artemisia Gentileschi und Lavinia Fontana wurden nach ihrem Tod vergessen. Bei Plautilla Briccis «damnatio memoriae» spielte sicherlich auch eine Rolle, dass die Franzosen unter Mazarin und dem Sonnenkönig in Rom verhasst waren. Sie hatte die falschen Förderer.
Nur ein Bruchteil ihrer Werke ist erhalten, manche befinden sich in Museumsdepots, in Privatbesitz oder ausserhalb Roms. Und diejenigen, die sich eigentlich gut für eine Präsentation der Künstlerin eignen würden – wie die Barockkapelle in der französischen Nationalkirche in der Nähe der Piazza Navona, die sich nicht vor Touristen retten kann –, haben veraltete Beschriftungen. «P. Bricci» heisst es genderneutral, «als könne man nicht glauben, dass es sich um eine Frau handle», sagt Melania Mazzucco schmunzelnd bei einem Pressespaziergang durch die Altstadt. Die Kirche zumindest hat keine Eile mit der Rehabilitierung.
Melania G. Mazzucco: Die Villa der Architektin. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl. Folio-Verlag, Wien 2024. 463 S., Fr. 41.90.