Die Kunstströmung nahm sich erstmals ausdrücklich der Traumwelten und des Unbewussten an. Jetzt feiert das Pariser Centre Pompidou den Surrealismus in seiner ganzen Fülle aus Literatur und Kunst.
Wie haben Sie geschlafen? Und haben Sie dabei geträumt? Erinnern Sie sich an Kurioses oder gar Beklemmendes? Hat auch bei Ihnen vorhin, noch eine Sekunde vor dem Erwachen, der Flug einer Biene um einen Granatapfel einen Traum bewirkt, wie ihn Salvador Dalí einmal auf die Leinwand brachte?
Träume amüsieren, ja beglücken – oder quälen und wecken, so plastisch, so abstrus können sie sein. Dass sie Stoff für Kunst abgeben, und das schon seit Jahrhunderten und weltweit, liegt auf der Hand. Was unsere Breiten angeht, hat sich aber erst jene Strömung der Traumwelten und des Unbewussten mit Nachdruck angenommen, die am 15. Oktober 1924 ihre theoretische Untermauerung erfuhr, und zwar mit dem «Manifeste du surréalisme».
Vor nun hundert Jahren hat der Literat André Breton das surrealistische Manifest verfasst, erstaunlicherweise in einer recht kleinkrämerisch wirkenden Handschrift. Wichtiger – und immer noch aktuell – ist Bretons Forderung: die Welt verwandeln und das Dasein ändern. «Kann nicht auch der Traum bei der Lösung fundamentaler Fragen des Lebens helfen?», heisst es in dem Manuskript, das sich in der Bibliothèque nationale de France befindet und nun als Auftakt einer umfassenden Surrealismus-Schau des Pariser Centre Pompidou zu sehen ist.
Mit seinen futuristischen, inmitten des alten Häusermeers immer noch utopisch wirkenden Fassaden der 1970er Jahre scheint das Centre Pompidou dafür der rechte Ort zu sein – ein Jahr vor seiner fünfjährigen Schliessung zwecks Sanierung. Hier wimmelt es jetzt von Schriften und Bildern aller Grössen, die der Avantgarde von damals zugerechnet werden, darunter Maler und Fotografen wie Victor Brauner, Dora Maar, Joan Miró, Man Ray oder Dorothea Tanning.
Dabei wird der enge Rahmen der Gründerzeit des Surrealismus verlassen, denn aus der Avantgarde wurde eine breite Bewegung, die über vierzig Jahre lang währte und ausgesprochen international war. Folglich haben auch Kunstschaffende späterer Epochen und anderer Kulturkreise einen Auftritt, etwa solche aus Japan oder Kuba.
Spiel mit dem Zufall
Surrealismus ist zunächst vor allem literarischer Natur. Das Manifest, das später Änderungen erfuhr, ist dabei Dreh- und Angelpunkt, und Dichter werden grundsätzlich als impulsgebende Visionäre begriffen. Eine Einbahnstrasse ist das aber keineswegs: Die Ausstellung verfolgt in einem sprichwörtlichen Labyrinth aus Schriften und Bildern den Dialog zwischen einerseits Autoren und anderseits Malern, Grafikern, Bildhauern, Fotografen und Filmregisseuren.
Diese greifen mit Gemälden, Collagen, Skulpturen und Aufnahmen aller Art Themen der Literaten auf oder schaffen neue Konstellationen, die wiederum den Kreis der Dichter inspirieren. Gegenseitige Befeuerung war Tagesordnung. «Revoltieren! Und erstaunen!» lauteten die Devisen. Gemeinsamer Nenner ist dabei, dass Logik und Harmonie, Vernunft und Bürgerlichkeit, Anstand und Scham ausser acht gelassen werden. Was interessiert, sind Gegensätze und Widersprüche und ihre Unvereinbarkeit – die ewigen Dilemmata. Höheres Ziel ist die Überwindung des Konträren, ja seine Auflösung.
Auf das vom Zufall bestimmte Spiel mit Wörtern antworten unwillkürlich hervorgezauberte Bilder. Auf die jedwede Kontrolle durch die Vernunft ausschliessende «écriture automatique» folgen Bild gewordene Äquivalente, aber auch neue Techniken, wie Frottage oder Komposition mit Pigmenten, denen Sand beigemischt ist.
Zu sehen ist Ironisches, Provokatives, Bizarres, ja Beklemmendes, aber auch Erotisches und Laszives, bei dem Motive etwa aus Hieronymus Boschs «Der Garten der Lüste» auf Praktiken und Prinzipien des Marquis de Sade stossen. «Wenn Sie die Liebe mögen, werden Sie auch den Surrealismus mögen», formulierte die Malerin und Illustratorin Valentine Hugo.
Paris zeigt Ikonen wie Salvador Dalís «El gran masturbador» oder René Magrittes «L’Empire des lumières», das Bild eines von einer Laterne beleuchteten Hauses am Wasser vor einem Frühabendhimmel. Zu sehen sind auch Sequenzen aus Filmklassikern. Dazu gehören Hans Richters «Vormittagsspuk» (1927/28), natürlich Luis Buñuels «Un chien andalou» (1929) oder Alfred Hitchcocks «Spellbound» (1945). Für den Psychothriller mit Ingrid Bergman und Gregory Peck nach einem Roman von 1927 hat Dalí die Kulissen geschaffen.
Die Mittel sind unterschiedlich, doch die Themen bilden Schwerpunkte: Hier geht es um Hypnose und die Rolle, die ein Medium einnimmt, da um den Traum als Objekt von Neurologie und Psychoanalyse, dort um die «Schönheit des zufälligen Zusammentreffens einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch», wie sie der Surrealismus-Ahnherr Isidore Lucien Ducasse alias Lautréamont beschworen hat. Stehen einerseits Chimären oder politische Monster im Mittelpunkt, dreht sich anderseits alles um den Wald oder die Nacht. Am Ende steht das grosse Ganze im Scheinwerferlicht: der Kosmos und unser Platz darin.
Monster zwischen Mensch und Tier
Die Surrealisten zapften unterschiedlichste Quellen an, darunter Wissenschaft und Populärkultur, Denkmodelle aus dem europäischen Mittelalter oder aus (damals noch) fernen Regionen, speziell von Urvölkern, wie den Hopi in Arizona oder den Tarahumara in Mexiko. Sie rekurrierten aber vor allem auf ältere Poesie und Vorläufer in der Kunst. So wird jetzt an Novalis, Victor Hugo, Lewis Carroll, Arthur Rimbaud oder Guillaume Apollinaire erinnert. Maler wie Odilon Redon dürfen nicht fehlen, besonders prominent ausgestellt ist aber Giorgio di Chirico als Mitbegründer der Pittura metafisica.
Surrealistische Malerei hat sich als logische Folge einer seit längerem in den Ateliers betriebenen Loslösung von formalen Problemen des «L’art pour l’art»-Konzepts weit entfernt. Nach der Explosion der Farbe durch die Fauves und der Zersplitterung der Form durch die Kubisten kommen wieder stärker Inhalte zum Zug. Mit den Futuristen und den Dadaisten erfolgt eine Wende zu gesellschafts- und kulturkritisch motivierten Positionen.
Die Künstler um Breton knüpften an die Absurdität des Ersten Weltkriegs sowie die ökonomische und soziale Wirklichkeit der frühen 1920er Jahre an. Sie imaginierten irritierende Situationen und vor allem auch Figuren, vielfach halb Mensch, halb Tier, in ungewöhnlichen Konstellationen. Sie kritisierten vermeintliche Innovationen, etwa die Dominanz von Ratio und Technik oder die Konsumgesellschaft. Und auch die Gefahren politischer Systeme bis hin zu Kommunismus, Faschismus und Kolonialismus.
Dabei arbeiteten die einen figurativ, die anderen mit Mitteln der Abstraktion. Streng ästhetisch betrachtet geht die Umsetzung von Ideen aber nicht immer mit bestechendem Handwerk einher. Hier setzt sich unter anderen Max Ernst ab mit seinem Spagat zwischen Denken und Ausführen. Seine Darstellung «L’ange du foyer (Le triomphe du surréalisme)» von 1937, die ein tanzendes anthropomorphes Monster zeigt, ist denn auch das Plakatmotiv der Schau.
«Surréalisme. L’exposition du centenaire», Centre Pompidou, Paris, bis 13. Januar. Katalog € 49.90. Weitere Surrealismus-Jubiläumsausstellungen werden 2025 in Madrid, Hamburg und Philadelphia gezeigt.