Die Regenmassen der vergangenen Tage haben in Wien zu schweren Überschwemmungen geführt. Häuser mussten evakuiert werden, die U-Bahn fällt tagelang aus, und Strandlokale wurden verwüstet. Die Wiener bleiben dennoch erstaunlich gelassen.
Sonderlich leicht lassen sich die Wienerinnen und Wiener nicht beeindrucken. Beate Wist steht auf der Reichsbrücke und blickt hinunter auf die Donau, die enorme braune Wassermassen führt. «Ja, es ist ein höherer Wasserspiegel», sagt die 75-Jährige. «Aber das ganze Gedöns jetzt ist etwas übertrieben», findet sie. Sie sei nur hergekommen, weil sie ganz in der Nähe wohne und mehrere Bekannte sie angerufen und gefragt hätten, ob sie in Sicherheit sei.
Wegen der Sturmböen hält sich Wist den gelben Regenmantel am Revers zu und erzählt vom Hochwasser 1954, das sie als Kind miterlebt hatte. Sie zeigt Richtung Mexikoplatz am Brückenkopf. Dieser sei damals unter Wasser gestanden. Jetzt seien ja nicht einmal die Grünflächen überschwemmt. Im Westen der Stadt müsse es aber schlimm sein, räumt Wist ein und steigt wieder in ihr Auto.
Die Donauinsel rettet die Stadt vor grösseren Katastrophen
Dass die Hochwasserlage in Wien trotz den enormen Niederschlagsmengen der letzten Tage nicht so schlimm ist wie 1954, ist allerdings kein Zufall. Die damalige Katastrophe löste neue Debatten aus über die Verbesserung des Schutzes vor Überschwemmungen. Sie führten zu der Idee, ein zweites Flussbett zu schaffen, das durch eine langgezogene Insel vom Hauptbett der Donau getrennt sein sollte und worein das Hochwasser eingeleitet werden kann. So entstand in den siebziger und achtziger Jahren die mehr als zwanzig Kilometer lange Donauinsel, heute ein beliebtes Naherholungsgebiet.
Auch an diesem Sonntag sind hier Menschen unterwegs. Die meisten allerdings nicht für Spaziergänge oder zum Radfahren, sondern um sich ein Bild zu machen von dem 30-jährlichen Hochwasser der Donau – einem Ereignis also, wie es statistisch nur alle 30 Jahre vorkommt. Ein Mann steht am Ufer und filmt mit dem Smartphone. Noch nie habe er den Strom so hoch stehen sehen, sagt er. Die Schiffe stehen alle verankert, sie könnten die Brücken auch gar nicht mehr passieren.
Auffallend ist vor allem die Fliessgeschwindigkeit der Neuen Donau, des sogenannten Entlastungsgewässers. Sie plätschert üblicherweise gemächlich dahin, jetzt reisst sie jedoch so schnell wie der Hauptstrom. Die im Sommer beliebten Lokale entlang dem Ufer stehen fast komplett unter Wasser. Eine etwas erhöhte Terrasse der Taverne Sokrates ist noch begehbar. Von der gegenüberliegenden Copa Beach ist wegen des Pegelstandes nur noch die Hälfte des übergrossen roten Schriftzugs sichtbar.
«Bleiben Sie wenn möglich zu Hause», rät Radio Wien
Hier genossen noch vor einer Woche viele den scheinbar unendlichen Sommer, nochmals wurden Temperaturen über 30 Grad gemessen. Im zweitwärmsten Sommer der Messgeschichte wurden in Wien dieses Jahr über 40 solche Hitzetage verzeichnet. Vor allem der August und die ersten Tage des Septembers waren aussergewöhnlich heiss, manch einer sehnte den Wetterumschwung von dieser Woche herbei – aber nicht diese Wassermassen und den Temperatursturz von über 20 Grad.
«Sind Sie von der Vogelrettung?», fragt eine suchende Frau beim Ausgang der U-Bahn-Station Donauinsel. Zugvögel und insbesondere Schwalben finden wegen der Unwetter kaum Nahrung, und die Flugbedingungen für die Reise in den Süden sind schlecht. Tierschutz Austria hat deshalb am Samstag dazu aufgerufen, geschwächte, am Boden liegende Vögel zu versorgen und dem Tiernotruf zu melden. Die Frau hat mit Bekannten Schwalben eingesammelt und wartet nun auf Hilfe.
«Bleiben Sie wenn möglich zu Hause», mahnt Radio Wien immer wieder. Doch am Nachmittag lässt der Niederschlag etwas nach, und viele nutzen den Sonntag, um das historische Ereignis zu dokumentieren. Entlang den Wiener Gewässern und auf den Brücken stehen jeweils Dutzende von Menschen mit gezückten Smartphones. Viele tragen warme Mäntel, Regenhosen und Gummistiefel.
Bei der Urania hält ein Absperrband die Menschen nicht davon ab, die Strasse hinunterzugehen an den Donaukanal, wo das Hochwasser ebenfalls ein beliebtes Sommerlokal verwüstet hat. Der Pegelstand reicht bis zum Weg entlang dem Kanal. Zwei Polizisten scheuchen die Schaulustigen deshalb mit strenger Ermahnung wieder weg. «Wir sperren nicht ab, weil es lustig ist, sondern weil es gefährlich ist», erklärt der Beamte.
In der Innenstadt ist vom Ausnahmezustand wenig zu merken. Touristen stehen in Gruppen vor dem Stephansdom und spazieren über den Graben. Im Café de l’Europe sitzen wie fast während des ganzen Jahres einige Unerschrockene sogar draussen, allerdings unter Decken und Heizstrahlern.
Der Wienfluss wird vom Rinnsal zum reissenden Strom
Die U-Bahn fährt jedoch nur eingeschränkt, und das voraussichtlich noch bis am Mittwoch. Besonders betroffen ist die Linie 4, die streckenweise entlang dem Wienfluss führt. Dieser ist normalerweise nicht mehr als ein Rinnsal in einem überdimensioniert scheinenden künstlichen Betonbett – auch das zum Schutz vor Überschwemmungen. Buchstäblich über Nacht hat er sich in einen bedrohlichen, reissenden Strom verwandelt. Innerhalb von 24 Stunden ist der Pegelstand von 50 Zentimeter auf über 2 Meter 30 am Sonntagmorgen angestiegen.
Der Wienfluss erreichte denn auch den Pegel eines 100-jährlichen Hochwassers, wie Bürgermeister Michael Ludwig vor den Medien erklärte. Im westlichen Aussenbezirk Penzing wurde als Spitzenwert ein Durchfluss von 400 Kubikmetern pro Sekunde gemessen – normal ist in einer Trockenphase 1 Kubikmeter pro Sekunde.
Mit nachlassendem Regen gingen die Pegelstände am Sonntagnachmittag etwas zurück. Das bedeutet aber noch keine Entwarnung, wie Ludwig erklärte. Für Montag werde eine zweite Welle an Regen und auch an Hochwasser erwartet, so der Bürgermeister.
In Penzing zeigt sich denn auch, wie dramatisch die Situation über Stunden war. Unmittelbar an der Grenze zu Niederösterreich stehen hier in einer Strasse niedrige Häuschen direkt am Wienfluss. Üblicherweise eine ländliche Idylle, herrschte hier am Sonntagmorgen akute Lebensgefahr – mehrere Häuser waren nur noch per Boot erreichbar und mussten evakuiert werden.
Der Schlamm auf der Strasse und eine überschwemmte Garage zeugen noch davon. Die Menschen machen sich am Nachmittag aber bereits ans Aufräumen. Ein Mann säubert mit dem Hochdruckreiniger den Vorplatz seines Hauses, obwohl wieder stärkerer Regen eingesetzt hat. Vor der Eingangstür stehen nach wie vor Sandsäcke bereit. Eine Anwohnerin bringt in einer Schubkarre zügigen Schrittes Schutt weg. Reden mag sie nicht. Weil sie im ersten Stock wohne, dürfe sie bleiben, sagt sie nur. «Vorerst!», ruft sie noch hinterher.