Der Schweizer Südkanton beherbergt viele Institutionen für Kunst. Mit der Bally Foundation in Lugano hat er unlängst einen neuen Hot Spot erhalten. Dort gehen jetzt Kunstschaffende der magischen Anziehungskraft des Tessins auf den Grund.
Im Museum der Bally Foundation in Lugano erkunden Künstler die Magie einer zwischen See und Bergen gebetteten Paradieslandschaft
Es war der Ausstellungsmacher Harald Szeemann, der 1978 mit seiner Monte-Verità-Schau in Ascona die Berg- und Seenwelt des Tessins als Kraftort einer internationalen Avantgarde wiederentdeckte. Seither pilgern unzählige Kulturtouristen auf den Berg der Wahrheit, um vor Ort angebauten Grüntee zu trinken oder Veranstaltungen in einem der schönsten Hotels der Moderne zu besuchen.
Doch schon lange bevor Aussteiger und Lebensreformer aus halb Europa um 1900 hoch über dem Lago Maggiore nackt in der Sonne tanzten oder über Vegetarismus, Pazifismus und Frauenemanzipation diskutierten, zog der Südkanton Politflüchtlinge aus Italien und bald auch Touristen aus dem Norden an. Die Mailänder Freiheitskämpfer Giacomo und Filippo Ciani bezogen 1840 eine von ihrem Landsmann Luigi Clerichetti umgebaute klassizistische Villa direkt am Ufer des Ceresio in Lugano.
Später beauftragten sie Clerichetti mit dem Bau des Grand Hôtel du Parc, das seit 1855 betuchte Reisende anlockte. Heute bildet es als «Ex-Palace» das historische Rückgrat des Kulturzentrums LAC. Am Lago Maggiore wiederum machte der russische Anarchist Michail Bakunin 1869 die Villa La Baroneta in Minusio zum konspirativen Treffpunkt. Und die mutmassliche Zarentochter Antoinette de Saint-Léger empfing auf den von ihr mit Palmen und Eukalypten in ein subtropisches Paradies verwandelten Brissago-Inseln Berühmtheiten wie Joyce, Leoncavallo, Rilke oder Segantini.
Flora des Südens
Die grosse Zeit des einst nur schwer erreichbaren Tessins brach 1882 mit der Eröffnung der Gotthardbahn an. Villen wie die Helios von Otto Maraini oder das Castello Cattaneo von Gino Coppedè schmückten bald schon die Hügel rund um Lugano. Dort fand Hermann Hesse 1919 sein Arkadien, dem er in «Klingsors letztem Sommer» ein rauschhaftes literarisches Denkmal setzte. Eine ähnliche Leidenschaft trieb Prinz Friedrich Leopold von Preussen an, als er einen barocken Landsitz direkt am See in seine von mediterranem Grün umflorte Villa Favorita verwandeln liess.
Zuvor schon hatte der Genfer Gartenarchitekt Henry Correvon das Tessin aufgrund der «exubérance si extraordinaire» seiner Vegetation zur Schweizer Riviera erklärt. Und noch 1936 berauschte sich der Zürcher Geobotaniker Carl Schröter an der Flora des Südens. Diese lockte reiche Pflanzenliebhaber wie Herrmann Scherrer aus St. Gallen an, der in Morcote einen romantischen Weltgarten anlegte. Oder auch den Hamburger Kaufhauskönig und Kunstsammler Max Emden, der die Brissago-Inseln zur exotischen Kulisse seiner Sinneslust machte.
Diese Geschichte liesse sich über Erich Maria Remarque, der sein Refugium in Porto Ronco fand, bis zu den Industriellen, Financiers und Modemillionären fortschreiben, die heute in den schönsten Villen von Castagnola residieren. Ihrem Zugriff entging einzig die in einem mediterranen Palmengarten am See gelegene Villa Heleneum. Diese verharrte lange in einem Dornröschenschlaf. Nun ist sie jüngst – nach einem Intermezzo als Museum für aussereuropäische Kulturen – zu einem Haus zeitgenössischer Kunst geworden.
Museum am See
Die Villa wurde 1932 als neusachliche Interpretation des Versailles-Schlosses Petit Trianon für Hélène Bieber, eine in Paris reich gewordene Ballerina, erbaut. Das Anwesen sollte in Anlehnung an den Monte Verità zu einem mondänen Ort des kulturellen Austausches werden: ein Traum, der durch Krieg und Krise vereitelt wurde. Jetzt aber dürfte er dank der Bally Foundation zumindest teilweise Wirklichkeit werden. Die 2006 gegründete Kulturstiftung des Modekonzerns Bally hat sich dem kreativen Dialog mit der bildenden Kunst verpflichtet. Seit 2008 verleiht sie den Bally Artist Award. Unlängst mietete sie die Villa Heleneum von der Stadt Lugano und gab ihr den alten Glanz zurück.
Ende 2022 wurde Vittoria Matarrese zur Direktorin der Villa Heleneum ernannt. Zuvor war sie für die Villa Medici in Rom und das Palais de Tokyo in Paris tätig. Mit der Eröffnungsausstellung «Un lac inconnu», in der Kunstschaffende in die Tiefen und Geheimnisse des Luganersees, aber auch des Unterbewussten einzutauchen suchten, gelang ihr 2023 eine international beachtete Eröffnungsschau. Dieser folgte im letzten Winter die Präsentation des filmischen und tänzerischen Werks der saudischen Künstlerin Sarah Brahim. Die Schau konnte man letztlich auch als Hommage an Hélène Bieber verstehen.
In der neusten, von Matarrese stimmungsvoll inszenierten Gruppenschau «Arcadia» spüren nun 19 Künstlerinnen und Künstler von Hermann Hesse über Mario Schifano bis Vanessa Beecroft dem noch immer Magie versprühenden Land zwischen Gebirge und See nach: Das Tessin wurde von den ersten Besuchern wie ein irdisches Paradies bestaunt, verkam dann aber bald zur Postkartenidylle. Daran erinnern zu Beginn der Ausstellung historische Ansichtskarten mit malerischen, von Palmen gerahmten Dörfern und Gegenden.
Gleich mehrere Kunstschaffende stürzen sich geradezu auf das Symbol des Südens: die aus Südostasien stammende, das Erscheinungsbild der ganzen Region prägende Tessinerpalme (Trachycarpus fortunei). Seit Anfang September ist sie übrigens aus höchst zweifelhaften Gründen in der ganzen Schweiz – anders als sonst wo in der Welt – als «invasiver Neophyt» verboten.
Der junge Frankobrasilianer Gabriel Moraes Aquino zeigt den grossformatigen, sepiabraunen Negativ-Print einer Trachycarpus-Palme, die er auf dem Weg nach Gandria aufgenommen hat. Julius von Bismarck hat ein junges Exemplar in einem speziellen Verfahren wie für ein Herbarium gepresst. Und Julia Steiner verleiht mit schwarz gemalten Palmfächern dem oberen Treppenhaus duftige Leichtigkeit.
Den Garten als kulturelles Gebilde zelebriert die mit Pflanzendüften experimentierende Genferin Lou Masduraud. Genauso wie die Polin Zuzanna Czebatul, die eine Tempelruine aus aufgeblasenen Plastiksäulen errichtete. Das französisch-japanische Duo Ittah Yoda hat als Artist in Residence vor Ort gestische Bilder gemalt und Skulpturen aus Marmorbruchstücken angefertigt. All diesen raumgreifenden Installationen antwortet als virtuelle Abstraktion Maxime Rossis Sonnenuntergang. Gehalten ist er sinnigerweise in der «Pantone»-Farbe namens Lugano Sunset.
Rossi lädt aber auch dazu ein, das Ausstellungshaus und seinen ebenfalls mit künstlerischen Interventionen aufwartenden Park zu verlassen und vorbei an Pinien, Zypressen und Olivenbäumen hinaufzusteigen zu einer kleinen Kapelle. Diese ist im Parco San Michele gelegen und gibt durch die Türe Blicke frei auf ein leuchtend violett-blaues Blumendiptychon.
Mit der zwischen Natur und Kunst, Realität und Traum vermittelnden Arcadia-Schau erweist sich die Villa Heleneum einmal mehr als wichtiger Fokus zeitgenössischer Kunst in Lugano – dies im Verbund mit der Collezione Olgiati und dem LAC. Gleichwohl schien das Fortbestehen des neuen Ausstellungshauses jüngst durch den Verkauf von Bally an die US-Investmentfirma Regent ungewiss. Nun aber hat Nicolas Girotto, Bally-CEO und Präsident der Bally Foundation, Entwarnung gegeben. Auf Anfrage versicherte er, «dass die Bally Foundation weiterhin bestehen bleibt und unverändert in ihrer bisherigen Form fortgeführt wird».
Bis 12. Januar 2025 in der Villa Heleneum in Lugano-Castagnola.