Bei der Wahl in Österreich werben gleich drei Parteien mit Corona-Skepsis um Stimmen. Wegen der restriktiven Pandemiepolitik könnten die rechtspopulistischen Freiheitlichen sogar erstmals stärkste Kraft werden – nur fünf Jahre nach dem Ibiza-Skandal.
Der Kaffee ist bio, das Sauerteigbrot hausgemacht und der Salat aus dem eigenen Garten. Das abgeschiedene Lokal mit veganer Küche in Ottensheim unweit von Linz bietet einen spektakulären Blick auf die Donau und unverbaute Ufer. Allerdings schüttet es seit Stunden, die Terrasse über dem Wasser ist verwaist. Im Inneren sitzen jedoch zwei Dutzend Mitglieder und Sympathisanten der Kleinpartei Menschen Freiheit Grundrechte (MFG) bei Bier und Weisswein, um für den Endspurt des Wahlkampfs noch einmal die Kräfte zu bündeln.
Die Stimmung ist gut. Dagmar Häusler erzählt vom Partybus, mit dem sie am kommenden Abend durch Linz fahren werde. Jeder könne einsteigen und sich über das Programm informieren. Die 41-Jährige trägt grosse orange Ohrringe und eine Bluse in derselben Farbe, es ist auch die der Partei. Sie war 2021 Mitgründerin und steht nun für die Nationalratswahl auf dem zweiten Listenplatz. «Nächste P(l)andemie? Sicha ned!», steht auf ihrem Wahlplakat, das an der Wand lehnt.
Herbert Kickl wettert gegen den «Corona-Wahnsinn»
Häusler betont zwar, man sei inhaltlich breit aufgestellt. «Klima ist nur heisse Luft», steht auf den T-Shirts, in die an diesem Abend mehrere Funktionäre gekleidet sind. Doch das Coronavirus und die Massnahmen dagegen sind das bestimmende Thema von MFG.
Gerhard Mahringer etwa hat eine lange Vergangenheit bei der konservativen ÖVP und sagt, er sei «im Herzen ein Schwarzer». Doch während des Corona-Regimes, wie er es nennt, kam es wegen seiner impfkritischen Haltung zum Bruch mit der Regierungspartei, und er verlor auch seine Stelle in der Verwaltung des Bundeslandes Oberösterreich. Heute politisiert er für MFG im Gemeinderat von St. Martin im Mühlkreis. 11 Prozent der Stimmen erhielt die erst ein halbes Jahr zuvor gegründete Partei dort bei der Wahl vor drei Jahren, mehr als 6 Prozent waren es im gesamten Bundesland. Seither ist die oft als Impfgegner-Partei bezeichnete Gruppe mit drei Sitzen im oberösterreichischen Landtag vertreten.
Beim damaligen Urnengang war das Virus noch das bestimmende Thema. Es galt eine 3-G-Regelung, und Österreich hatte bereits drei harte Lockdowns hinter sich, der Osten des Landes sogar vier. Die Impfskepsis war zudem in Oberösterreich während der gesamten Pandemie am stärksten. Dennoch wurde spekuliert, MFG könnte auch auf nationaler Ebene zu einem relevanten Faktor werden. Das geschah nicht: Erfolge in weiteren Bundesländern blieben aus, und auch ein Einzug in den Nationalrat bei der Wahl am 29. September ist aussichtslos.
Das heisst aber nicht, dass die Pandemiebewältigung kein Thema wäre – im Gegenteil. Neben MFG machen zwei weitere Parteien intensiv Wahlkampf damit. Die Liste Madeleine Petrovic, geführt von einer ehemaligen Chefin der Grünen, die sich mit ihrer Partei wegen der Corona-Massnahmen überwarf, ist zwar ebenfalls chancenlos. Die FPÖ könnte dagegen erstmals überhaupt auf dem ersten Platz landen, und die Pandemiepolitik ist einer der Hauptgründe für diese Stärke, wie Laurenz Ennser-Jedenastik sagt, Professor für österreichische Politik an der Universität Wien.
Nach dem Platzen des Ibiza-Skandals 2019 und ohne ihren langjährigen Vorsitzenden Heinz-Christian Strache stürzten die Rechtspopulisten in eine Krise und verloren die Parlamentswahl. Ihr damaliger Parteistratege und der heutige Chef, Herbert Kickl, erkannte aber schon in einem frühen Stadium der Pandemie das Potenzial des Widerstands gegen die Corona-Massnahmen.
Während alle anderen Parteien die Regierung in ihrem Kurs unterstützten und die sich zunehmend radikalisierenden Gegner als Schwurbler abtaten, setzte sich Kickl an die Spitze dieser Bewegung. Dass ihr auch Querdenker und Rechtsextreme angehören, störte ihn nicht. Er wetterte gegen den «Corona-Wahnsinn», die «Blockwart-Mentalität» der Regierung, die Test- und Maskenpflicht. Auch die Impfung lehnte er ab und empfahl stattdessen die Behandlung mit einem Entwurmungsmittel für Pferde.
Schub verlieh der Kampagne, dass Österreichs Pandemiepolitik tatsächlich erratisch war. Insgesamt vier landesweite Lockdowns wurden verhängt, hohe Strafen bei Verstössen ausgesprochen, und mit insgesamt 39 Wochen waren die Schulen im internationalen Vergleich lange geschlossen. Vor allem aber liess die Regierung sich Ende 2021 als einzige eines europäischen Landes ausser dem Vatikan zum Beschluss einer allgemeinen Impfpflicht hinreissen. «Österreich ist mit dem heutigen Tag eine Diktatur», sagte Kickl dazu. Die Umfragewerte der FPÖ stiegen danach nochmals an auf zeitweise rund 30 Prozent.
Politiker sollen zur Verantwortung gezogen werden
Die Impfpflicht wurde nie umgesetzt und schliesslich aufgehoben. Aber sie spaltete die Gesellschaft nachhaltig. In sogenannt alternativen Medien wie AUF 1 oder Report 24, in den Leserforen seriöser Nachrichtenportale und auf den sozialen Netzwerken ist die Pandemie auch über zwei Jahre nach dem Ende fast aller Massnahmen Dauerthema.
Ennser-Jedenastik erstaunt das nicht. Österreich verfolgte nicht nur eine sehr restriktive Corona-Politik, sondern viele Massnahmen unterschieden zwischen Geimpften und Ungeimpften. So sei eine tiefe Kränkung derjenigen entstanden, die sich vom Staat diskriminiert sahen. Diese Empfindung beschäftige die Betroffenen viel länger als die Erinnerung an mühsame Einschränkungen jene, die diese mittrugen. Die Folge sei, dass gleich drei Parteien dieses Gefühl bewirtschafteten.
Beim MFG-Treffen in Ottensheim erinnert sich Gerhard Mahringer, wie er als Ungeimpfter im lokalen Tischtennisverein ermahnt worden sei und dass Ideen kursiert hätten, bei Anlässen je nach Impfstatus verschiedene Armbänder abzugeben. «Und die goldenen Sticker im Ninja-Pass», wirft Dagmar Häusler ein. Der Ninja-Pass war ein 3-G-Nachweis an Schulen, die goldene Marke erhielten geimpfte Kinder.
Häusler, die selbst als biomedizinische Analytikerin arbeitete und die ihre Stelle in einem Spital während der Pandemie aufgab, spricht vom grössten Medizinskandal der Zweiten Republik und einem gesellschaftlichen Trauma. Ihre Partei fordert deshalb eine echte Aufarbeitung des Geschehenen – in der von der Regierung beauftragten Studie der Akademie der Wissenschaften sieht sie ein Gefälligkeitsgutachten. Die damaligen Entscheidungsträger sollen zudem strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das müsse Politiker aller Ebenen betreffen, aber auch Mitglieder der diversen Beratergremien, findet Häusler.
«Gegen das Vergessen» und «kein Impfzwang», heisst es auch in einem aktuellen Wahlkampfspot Kickls. In seinen Reden sagt er jeweils, man habe damals für die Freiheit gekämpft und so das «Corona-Regime» und die Impfpflicht zu Fall gebracht. Auch die FPÖ verlangt in ihrem Wahlprogramm eine Aufarbeitung, einen Hilfsfonds für Corona-Folgen, die Rückzahlung von Strafen und «gegebenenfalls auch strafrechtliche Ermittlungen».
Die FPÖ habe ihrer Partei das Thema abgekupfert, aber sie lebe es nicht, findet Häusler. Doch mit ihren Strukturen und den viel grösseren Ressourcen sei es ihr gelungen, als kompetenter wahrgenommen zu werden, sagt Ennser-Jedenastik. Heute geniesse die FPÖ in der Frage deshalb praktisch eine Monopolstellung.
Glaubwürdigkeit bei den Massnahmengegnern verleiht den Freiheitlichen zudem, dass sie in Niederösterreich, wo sie seit der Regionalwahl Anfang 2023 mitregieren, einige umstrittene Punkte durchsetzen konnten. So wurde ein mit 30 Millionen Euro dotierter Fonds eingerichtet, der unter anderem verfassungswidrige Strafen zurückzahlen und die Betreuung von Menschen mit «Impfbeeinträchtigungen» finanzieren soll. Das Bundesland wird ausserdem nicht mehr für die Covid-Impfung werben.
Ennser-Jedenastik analysierte die niederösterreichische Wahl und stellte eine Korrelation zwischen der Impfrate einer Gemeinde und dem Zuwachs der FPÖ-Wähleranteile fest: Je tiefer diese war, desto besser schnitten die Freiheitlichen ab. Auch jede Umfrage, in der Pandemiemassnahmen abgefragt würden, zeige einen tiefen Graben zwischen der FPÖ-Wählerschaft und derjenigen aller anderen Parteien, erklärt der Politikwissenschafter.
Mit Corona sei aus dem Nichts ein Thema aufgetaucht, das für die Menschen so relevant gewesen sei, dass sie ihre Parteipräferenz danach neu ausgerichtet hätten. Das sei ein Prozess, den man nicht oft beobachten könne. Mit grosser Wahrscheinlichkeit würde ein Teil der neuen FPÖ-Wählerschaft die Partei ohne die Pandemie nicht unterstützen, sagt Ennser-Jedenastik.