Stefan Küng und Stefan Bissegger glänzen am lang ersehnten Grossanlass in Zürich nicht. Der Belgier Remco Evenepoel muss nicht einmal in Bestform antreten, um zu gewinnen.
Einiges schien dafür zu sprechen, dass Remco Evenepoel an diesem Sonntag nicht gewinnen würde. Nach seinem Doppelsieg an den Olympischen Spielen in Paris hatte der Belgier seinen historischen Triumph ausgiebig gefeiert. Er genoss seine Auftritte auf dem Brüsseler Marktplatz sowie im Stadion des RSC Anderlecht. An der Tour of Britain fuhr er weit hinterher. In Zürich angekommen, wirkten Evenepoels Gesichtszüge nicht mehr so ausgezehrt wie im Juli, als er sich an der Tour de France den dritten Gesamtrang erkämpft hatte.
Und das war nicht alles. Auf der Startrampe an der Offenen Rennbahn in Oerlikon sprang dem Belgier auch noch die Kette vom Zahnkranz. Ein Helfer versuchte hektisch, sie wieder zu justieren, ein anderer schleppte in wildem Aktionismus ein Ersatzvelo herbei, und die wertvolle finale Konzentrationsphase war zerstört. Gerade noch rechtzeitig sass Evenepoel wieder auf seinem vergoldeten Velo – wo in der Folge weder die Watt- noch die Kadenzmessung funktionierte.
Normalerweise wird ein Fahrer nach einer derartigen Pannenserie nicht Weltmeister im Einzelzeitfahren, also in jener Disziplin, in welcher jedes Detail zählt. Aber Evenepoel ist kein gewöhnlicher Athlet. Sechs Sekunden Vorsprung rettete er vor dem italienischen Stundenweltrekordler Filippo Ganna ins Ziel auf dem Sechseläutenplatz, nachdem er an der letzten Zwischenzeit noch über 19 Sekunden Vorsprung verfügt hatte.
Evenepoel wankte in den Schlussminuten des Rennens, auf den letzten zwei bis drei Kilometern schwanden die Kräfte. Er pflegt sich bei der Renneinteilung auf Wattzahlen und Kadenzen zu verlassen, wie er im Ziel sagte. Aber der Belgier hielt der Ungewissheit stand. Evenepoel ist in seiner Paradedisziplin derart überlegen, dass er selbst dann gewinnt, wenn einiges gegen ihn spricht. Der Vorsprung auf den drittplatzierten Italiener Edoardo Affini blieb mit 54 Sekunden komfortabel.
«Davon werde ich meinen Kindern erzählen können», sagte Evenepoel später. Und: Seine Frau habe ihm beigebracht, sich nicht an Dingen aufzureiben, die man nicht kontrollieren könne. Schliesslich liess er wieder seine jugendliche Unbeschwertheit aufblitzen, als er auf die Frage, wie er sich zwischen den beiden grossen Italienern auf dem Podium gefühlt habe, zum Besten gab: «Wie ein Focaccia.»
Küng vermisst den Flow
Die Auftritte der Schweizer Stefan Küng und Stefan Bissegger waren in mehrerlei Hinsicht diametral zu jener von Evenepoel. Ihm Gegensatz zu ihm machten sie in der Vorbereitung vieles richtig, arbeiteten akribisch auf den lang ersehnten Grossanlass in der Heimat hin, gaben sich optimistisch – doch als es zählte, fuhren sie weit hinterher.
Küng startete gut ins Rennen. Er bewältigte die ersten Kilometer ab der Offenen Rennbahn, auf welcher er als Jugendliche etliche Wettkämpfe bestritten hatte, im gewünschten Rhythmus. Im Aufstieg nach Uitikon ging der Plan, weiter zu forcieren, jedoch nicht auf. Ihm seien ein wenig die Beine eingeschlafen, gab er im Ziel zu Protokoll: «Ich bin leider nicht in den Flow reingekommen.»
In der kurzen, schnellen Abfahrt zur Seestrasse spielte der 30-Jährige seine technischen Stärken aus. Mehrere Fahrer klagten nach dem Rennen über die Streckenführung. Der Belag sei so schlecht gewesen, dass das Zeitfahrrad nur schwer zu kontrollieren gewesen sei, sagte etwa der Drittplatzierte Affini: «Ich bin mir sicher, sie hätten eine bessere Strasse finden können.»
Küng behielt in der heiklen Passage die Nerven und machte etliche Sekunden wieder gut, die er bergauf verloren hatte. Was jedoch wenig half, weil er auf den flachen Schlusskilometern von Feldmeilen bis ins Seefeld erneut zurückfiel. 1:48 Minuten hinter dem Tagesbesten zu landen, entspricht den hohen Ansprüchen des Frauenfelders nicht.
Woran es lag, wird im Nachhinein zu analysieren sein, eigentlich schien Küngs Vorbereitung geradezu ideal. Weil er nach gesundheitlichen Rückschlägen im Sommer bis zu den Olympischen Spielen nicht in Topform gekommen war, entschloss er sich kurzfristig zu einem Start an der Vuelta. In der Vergangenheit hatte sich mehrfach gezeigt, dass Küng dreiwöchige Rundfahrten nutzen kann, um noch besser in Schwung zu kommen.
Der Profi aus dem Team FDJ beendete die Spanienrundfahrt mit einem Sieg im abschliessenden Zeitfahren, der ihm Selbstvertrauen gab. Fast nebenbei hatte er an der höhenmeterreichen Vuelta abgenommen: Nur noch 80 bis 81 Kilo brachte der 1,93 Meter grosse Athlet zuletzt auf die Waage, was bergauf vorteilhaft ist. «Ich habe nicht jedes Broccoli abgewogen und jedes Reiskorn gezählt», erzählte er. Doch die Optimierung war willkommen.
An der Vuelta war der Italiener Affini im Zeitfahren chancenlos gegen Küng. Drei Tage später, an den Europameisterschaften im Zeitfahren, lag der Italiener knapp vor dem Schweizer, das Duo holte Gold und Silber. Aber jetzt, in Zürich, nahm er ihm fast eine Minute ab. Der direkte Vergleich macht deutlich: Ausgerechnet zum Saisonhöhepunkt hin zeigte Küngs Formkurve nach unten.
Bissegger kann auf neues Team hoffen
Noch schlechter erging es Stefan Bissegger, der sich auf den Schlusskilometern regelrecht aufgab und auf Rang 29 ins Ziel zwischen See und Opernhaus rollte. Bereits nach zehn Kilometern habe er muskuläre Probleme bekommen, sagte er später. Anschliessend habe er keinen Druck mehr auf die Pedale gebracht.
Bissegger, der in den letzten Tagen an einer Erkältung gelitten hatte, wirkte von Anfang an müde. Immer wieder verliess er unterwegs die Aero-Position und griff an die seitlichen Griffe seines Lenkers. Dass das kein gutes Zeichen war, bestätige er im Ziel: «Wenn du aus dem Sattel gehen musst, ist es fertig.»
Der 26-Jährige hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, an guten Tagen zu den weltbesten Zeitfahrern zu zählen. Demnächst bekommt er die Chance, seiner Karriere neuen Schwung zu verleihen. Bissegger hat für die Saison 2025 einen Vertrag bei einem Team unterschrieben, das sich in einem Aufwärtstrend befindet – und hart für den Erfolg arbeitet. Schon jetzt beschäftigt sich die Mannschaft, die den Transfer erst noch bekanntgegeben muss, mit der Entwicklung des künftigen Zeitfahrvelos des Schweizers.
Wenn es einmal läuft, dann läuft es – wer wüsste das besser als Evenepoel. Es scheint möglich, dass er wenige Wochen nach dem Doppelsieg an den Olympischen Spielen auch Zürich mit zwei Goldmedaillen verlässt. Für einen Triumph im Strassenrennen am kommenden Sonntag müsste er allerdings den slowenischen Superstar Tadej Pogacar schlagen. Das könnte sich als noch schwerer erweisen als ein Zeitfahrsieg ohne Wattmesser.