Die Wahlen in Deutschland zeigen es: Der Unmut über die scheinbar ausser Kontrolle geratene Zuwanderung bedroht das freiheitliche Europa ohne Grenzen. Es braucht mehr Kooperation und ein ökonomischeres Problembewusstsein.
Europas Politiker stehen unter Handlungsdruck. Die triumphalen Erfolge von rechts- und linksradikalen Parteien in Deutschland, Frankreich, Italien und vielleicht bald auch in Österreich drücken einen generellen Unmut über die herrschenden politischen Zustände aus. Und sie zeigen, dass die Angst vor unkontrollierter Migration zu einem zentralen politischen Thema geworden ist. Terroristische Attacken wie diejenige des Messerstechers am Stadtfest von Solingen haben das Gefühl der «fremden Gefahr» erst recht verstärkt. In weniger virulenter Form gilt das auch für die Furcht vor der 10-Millionen-Schweiz.
Deutschland hat mit der Einführung neuer systematischer Grenzkontrollen reagiert. Sie sollen Asylsuchende abschrecken und demonstrieren, dass man wieder Herr der Lage ist. Zudem sollen sie auch andere Länder davon abhalten, Flüchtlinge einfach durchzuwinken oder gar bei der Durchreise zu unterstützen, wie dies in der Vergangenheit oft der Fall war.
Die von den deutschen Massnahmen betroffenen Staaten haben nun ebenfalls Anreize, Flüchtlinge bereits an ihrer Grenze abzuweisen. Nach den sogenannten Dublin-Regeln können sie diese im Prinzip in das sichere Erstland, also das Land, wo sie in den Schengen-Dublin-Raum eingereist sind, überstellen. Konsequent angewendet, würde das bedeuten, dass sich die Asylsuchenden in den sowieso schon unter Druck stehenden Ländern an der EU-Aussengrenze (Italien, Griechenland, Spanien, Polen) sammeln. Die Entwicklung gefährdet die Errungenschaft des im Schengen-Raum vereinten Europa ohne Grenzen (aber mit grenzüberschreitender polizeilicher Koordination).
Mehr Asylsuchende drängen in wenige Länder
Doch wie prekär ist die Lage wirklich, und was lässt sich dagegen tun?
Die Zahl der Asylsuchenden hat sich seit dem Ende der Pandemie wieder deutlich erhöht, selbst wenn man die vor den Schrecken des Kriegs Schutz suchenden Ukrainer nicht dazuzählt. Im vergangenen Jahr erreichten die Erstanträge mit über einer Million oder 0,2 Prozent der Bevölkerung wieder fast das Niveau von 2015, als massenweise Syrer in Europa Schutz suchten.
Betrachtet man die Zusammensetzung der Flüchtenden, so zeigen sich bei einigen Gruppen naheliegende politische Gründe: Afghaninnen, Syrer, Venezolaner flüchten vor Bürgerkriegswirren, Verfolgung und Perspektivlosigkeit (alle aufnehmen kann Europa gleichwohl nicht).
Andere wie die Georgier oder die Türken und auch viele der übers Mittelmeer flüchtenden Afrikaner dürften sich kaum grosse Hoffnungen auf dauerhaftes Asyl in Europa machen. Doch die Dauer eines Asylverfahrens und vielleicht auch die Möglichkeit, unterzutauchen, bietet ihnen die gegenwärtig einzige verfügbare Aussicht, eine Weile in Europa leben und arbeiten zu können. Im Gegensatz zu den Afrikanern können Menschen aus Lateinamerika oder auch Georgien, für die die Visumspflicht abgeschafft wurde, einfach in den Schengen-Raum einfliegen.
Die Hauptgründe für die Zuwanderung von ausserhalb der EU in die grossen europäischen Einwanderungsländer sind Anträge auf Asyl und der Familiennachzug. Oft heiraten Drittstaatenangehörige Personen aus ihrem Heimatland.
Die allermeisten Asylsuchenden flüchteten in den vergangenen elf Jahren nach Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Schweden. Daneben kommen andere Menschen aus Nicht-EU-Ländern zur Ausbildung, zum Arbeiten oder als temporär vor dem Krieg in der Ukraine Schutzsuchende nach Europa.
Kumuliert man die von 2013 bis 2023 erstmals gestellten Asylanträge mit den für mindestens zwölf Monate erteilten Aufenthaltsbewilligungen an Zuwanderer von ausserhalb der EU, so zeigt sich das Ausmass der Konzentration auf wenige Einwanderungsländer.
Wenig Arbeitsmigranten, viele Ukrainerinnen
Von den insgesamt 25,8 Millionen Aufenthaltsbewilligungen, die in den vergangenen elf Jahren für Drittstaatenangehörige in der gesamten EU und der Schweiz ausgestellt wurden, stammen 5,9 Millionen aus Deutschland, 3,8 aus Frankreich, 3,1 aus Spanien, 2,3 aus Italien und 1,7 Millionen aus Polen. Die Schweiz hat während der Zeit laut diesen Zahlen 534 000 Aufenthaltsbewilligungen für Zuwanderer von ausserhalb der EU gewährt, Österreich 527 000 (wobei kaum alle Betroffenen noch im Land weilen werden).
Zudem zeigt sich, welch vergleichsweise geringe Bedeutung die legale Arbeitsmigration von ausserhalb Europa einnimmt. Insgesamt immigrierten nur gerade 4,19 Millionen oder 16,2 Prozent, um eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Zu den bisherigen Asylsuchenden sind nun die Schutzsuchenden aus der Ukraine gekommen. In den vergangenen zwei Jahren haben insgesamt 1,3 Millionen Personen in der EU und der Schweiz ein Asylgesuch gestellt, aber 4,1 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben den Schutzstatus erhalten.
Die Flüchtlinge und die zur Familienzusammenführung von ausserhalb der EU und der Schweiz Zuwandernden brauchen im Allgemeinen sehr lange, bis sie sich im Arbeitsmarkt ihres neuen Aufenthaltslandes zurechtfinden. Laut einer neuen Studie des Migrationsexperten Rainer Münz sind von den 20- bis 64-jährigen Männern, die seit weniger als fünf Jahren im Land sind, im Durchschnitt nur die Hälfte erwerbstätig, von den Frauen gar bloss ein Viertel. Bis dies rund zwei Drittel und damit gleich viele werden wie unter den zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit Zugewanderten, braucht es bei den Männern über 10, den Frauen gar über 15 Jahre.
Festgehalten werden kann also, dass der Zuwanderungsdruck aus Nicht-EU-Staaten seit dem Ende der Pandemie tatsächlich wieder deutlich zugenommen hat und dass sich dieser unter dem herrschenden Regime innerhalb von Europa sehr unterschiedlich verteilt. Und während Europa in den nächsten Jahren immer stärker zu altern beginnt und schon deshalb Zuwanderung brauchen wird, sind die Mehrheit derjenigen, die gegenwärtig immigrieren, aus Arbeitsmarktperspektive «die Falschen».
Es geht um Preise, Chancen und Abschreckung
Eine effizientere Flüchtlings- und Migrationspolitik sollte deswegen möglichst verhindern, dass in grossen Wellen schnell ankommende Wirtschaftsflüchtlinge die Aufnahmefähigkeit von europäischen Einwanderungsländern überfordern – ohne dass dafür der humanitäre Schutz von echt Bedrohten und Verfolgten aufgegeben werden muss. Das ist zugegebenermassen nicht einfach und braucht Kooperation.
- Nutzen für Nicht-Berechtigte senken. Wer weder aus humanitären Gründen noch weil er als Arbeitskraft erwünscht ist, ein Recht hat, sich in Europa niederzulassen, sollte sich einen möglichst geringen Nutzen davon ausrechnen können, es trotzdem zu versuchen. Eine rigorosere Kontrolle der Aussengrenzen statt Grenzschliessungen innerhalb des Schengen-Raums, rasche Bewilligungsverfahren und die schnelle Ab- und Ausweisung von Nicht-Berechtigten dienen diesem Ziel. Visafreiheit könnte an effektive und schnelle Rückübernahmeverpflichtungen gekoppelt werden.
- Rückübernahme attraktiver machen. Viele Rückführungen sind nicht möglich, weil die Heimatländer ihre Emigranten nicht zurücknehmen wollen. Sendeländer haben oft keine Anreize, ihrer Bevölkerung eine Emigration ins gelobte Europa zu verwehren. Erfolgreiche Emigranten überweisen Gelder in ihr Heimatland, statt womöglich in der Heimat arbeitslos zu sein. Regierungen, die bereit sind, Emigrierte zurückzunehmen, sollten deshalb dafür belohnt werden. Entwicklungshilfe kann unter Umständen einen Beitrag leisten, den Auswanderungsdruck zu senken. Mit Geldzahlungen an Ausgeschaffte riskiert man allerdings, dass diese für einen erneuten Emigrationsversuch eingesetzt werden.
- Abschreckung erhöhen. Spricht sich herum, dass Nicht-Berechtigte gleich in ein sicheres Drittland ausgewiesen werden, lohnt sich ein Emigrationsversuch kaum. Nach Rwanda werden sich nicht grosse Flüchtlingsströme umlenken lassen, aber ein solches «Drittstaatenmodell» kann unter Umständen die Anziehungskraft eines Asylverfahrens senken.
- Alternative Zuwanderungsmöglichkeiten schaffen. Legale Einwanderung wird den Flüchtlingsdruck nicht einfach zum Verschwinden bringen, wie sich beispielsweise in den USA zeigt. Aber die Möglichkeit, in Sendeländern Zuwanderungsberechtigungen (Green Cards) zu erwerben, eröffnet Wirtschaftsflüchtlingen einen weniger gefährlichen Weg, ihr Glück zu versuchen. Dabei könnte die Zuwanderung stärker auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet werden, etwa indem gewisse Qualifikationen verlangt oder sogar vor Ort gefördert werden.
- Aufenthaltsberechtigte besser integrieren. Es braucht beides, eine konsequente Zuwanderungspolitik und eine aktive Integrationspolitik. Die Partizipation am Arbeitsmarkt ist das effektivste Integrationsinstrument. Wer aus welchen Gründen auch immer eine Aufenthaltsbewilligung erhält, sollte starke Anreize haben, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Familienzusammenführung und Unterstützungszahlungen könnten an den Erwerb zumindest elementarer Sprach- und kultureller Kenntnisse gebunden werden; Zuverdienst muss sich lohnen. Braucht es Weiterbildung, um eine adäquate Arbeitsaufnahme zu ermöglichen, empfiehlt es sich, diese zu fördern.
- Untereinander kooperieren. Das Schengen-System ist auf Kooperation zwischen den beteiligten Staaten angelegt. Das funktioniert schlecht, wenn die Grenzstaaten mit ihren Problemen allein gelassen werden. Es braucht wohl einen finanziellen Lastenausgleich und im humanitären Flüchtlingswesen wahrscheinlich auch die Übernahme von geteilter Verantwortung. Länder, die bisher kaum Ziel der Asylsuchenden waren, könnten für ihre aktivere Beteiligung von allen Schengen-Ländern mit Anreizen versehen oder kompensiert werden.
Einfache Lösungen gibt es nicht. Das Verfügen von harten nationalen Grenzkontrollen aber sollte bloss eine Notlösung sein, bis koordinierte Massnahmen wirken.
Das Positive ermöglichen
Bei alldem sollte nicht vergessengehen, dass Migration per se etwas Positives ist. Es sind in der Regel die Dynamischen und Leistungswilligen, die es wagen, in ein anderes Land auszuwandern – sei es nun zum Überleben, um sich auszubilden, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder um unternehmerisch tätig zu werden. Ohne Zuwanderung wäre Europa viel weniger innovativ und vielfältig. Und ohne Zuwanderung werden gerade Europas rasch alternde Gesellschaften schnell verkrusten. Die rechts- und linksradikalen Populisten nutzen Ängste, die es wirksam zu zerstreuen gilt – damit Zuwanderung etwas Positives bleibt.