Der Zweite Weltkrieg hat auch die Philosophie erschüttert. In «Geister der Gegenwart» zeichnet Wolfram Eilenberger die Wege von vier Philosophen nach, die ein neues Denken formten.
«Ein Literat hätte ich werden müssen, das ist ein ganz anderes Leben als diese Begriffsscheisse», schreibt Paul Feyerabend im Juni 1983 an den Ethnologen Hans Peter Duerr. «Alle redeten von DER Kunst, DER Wissenschaft und DEM Volk, und da riss es mir die Geduld.»
Das war ausgerechnet in dem Jahr, in dem der Suhrkamp-Verlag Feyerabends erfolgreichstes Buch «Wider den Methodenzwang» neu auflegte. «Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge», im Original 1975 erschienen, war ein Plädoyer für eine pluralistische Methodik in der Wissenschaft. Es stellte einheitliche und vereinheitlichende Verfahren des theoretischen Arbeitens radikal infrage.
Angeregt wurde der Wiener Philosoph von der Essaysammlung «Against Interpretation» von 1966. Susan Sontag nimmt darin die Kunst vor dem Zugriff normativer und normierender Begrifflichkeit in Schutz: «Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert und diesen Inhalt interpretiert, zähmt man es.» Dies sei eine «Rache des Intellekts an der Kunst».
Differenz statt Identität
In seinem glänzend geschriebenen und klug komponierten Buch «Geister der Gegenwart» spürt Wolfram Eilenberger den verschlungenen, miteinander verbundenen Denkwegen von vier Intellektuellen zwischen 1948 und 1984 nach: Neben Susan Sontag und Paul Feyerabend handelt es von Theodor W. Adorno und Michel Foucault.
So unterschiedlich ihr Werk im Einzelnen auch sein mag, im Kern, so Eilenbergers These, geht es um eine Kritik an einem Denken, das alles und jedes auf den Begriff bringen will. Anstatt selbstgerechte Kollektivsingulare aufzublasen, die der Wirklichkeit Gewalt antun, betonen die Protagonisten des Buches die Vielheit: Wo Identität war, soll Differenz werden.
Ein Differenzdenker par excellence war Theodor W. Adorno. Da vereinheitlichende Theorien zum Ausschluss durch Einschluss führten, berge das Immanenzdenken, so der Philosoph in der «Dialektik der Aufklärung», totalitäre Tendenzen: Das Andere wird nivelliert und eingebettet und damit in seiner Unterschiedlichkeit weder erkannt noch anerkannt.
Die instrumentelle Vernunft, die das Abstrakte und Allgemeine über das konkrete Einzelne stellt, so Adorno, werde abweichenden Erfahrungen und Erscheinungen nicht gerecht. Er wollte an die Stelle des «Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen rücken, was ausserhalb des Banns solcher Einheit wäre».
Die Komplexität des Wahnsinns
Da der Begriff in ein «nichtbegriffliches Ganzes verflochten ist», gelte es, «die Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren». In seinem Hauptwerk «Negative Dialektik», im gleichen Jahr erschienen wie Sontags Essay «Gegen Interpretation», mahnt Theodor W. Adorno: «Es kann nicht die Aufgabe einer philosophischen Interpretation von Kunstwerken sein, ihre Identität mit dem Begriff herzustellen, sie in diesem aufzuzehren.» Einig waren sich die beiden sonst so unterschiedlichen Intellektuellen darin, dass die Künste sich nicht auf Begriffe reduzieren liessen – just auf das, wogegen sie rebellieren.
Am 29. Dezember 1949 hatte Susan Sontag, erst 16-jährig, zusammen mit zwei Kommilitonen einen Interviewtermin bei Thomas Mann in dessen Villa am San Remo Drive 1550 in Los Angeles. Man sprach über den «Zauberberg», aber auch über den «Doktor Faustus», bei dessen Abfassung ihn, so der Literaturnobelpreisträger, ein Schüler Alban Bergs beraten habe. Dieser Musiktheoretiker und Philosoph – Sontag verstand «Darnoldi» statt Adorno und hielt dies auch so in ihrem Tagebuch fest – habe im Übrigen Kalifornien kürzlich wieder verlassen, um in seine Heimat, aus der er 1934 fliehen musste, zurückzukehren.
Susan Sontag war vom Gespräch mit Thomas Mann enttäuscht. «Die Kommentare des Autors verraten sein Werk durch ihre Banalität», kommentierte sie. Aber auch sie wollte eine berühmte Schriftstellerin werden und dereinst wie Kafka zu den Besten gehören. Die mehrfach begabte «Zeitgeistseismografin» (Eilenberger) beabsichtigte, wie sie später schrieb, «im Roman das zu tun, was Foucault vorschlägt – die Komplexität des Wahnsinns vorstellen». Wie in ihren Essays sollte die vielgestaltige Welt in Worte gefasst werden, die Raum lassen für all das, was nicht in die «Ordnung der Dinge» passt: Pluralität auch bei ihr.
Unvernünftige Vernunft
Michel Foucault trat in seinen gross angelegten Studien den Nachweis an, dass die Trennung von Vernunft und Unvernunft, von Rationalität und Irrsinn genauso willkürlich wie künstlich ist. Alle Systeme und Denkmodelle, die auf dieser Sonderung beruhen, verkennen in seinen Augen die wahre Natur menschlichen Geistes: Die Philosophie von Hegel bis Sartre sei im Wesentlichen der Versuch einer Totalisierung der theoretischen Erfahrung gewesen. Es gelte, sich vom diskriminierenden Singular zu befreien. «Ich bin Pluralist», bekannte Foucault und sah sich damit in bester Gesellschaft.
«Geister der Gegenwart» komplettiert eine brillante, in zahlreiche Sprachen übersetzte Trilogie: 2018 erschien «Zeit der Zauberer» über Walter Benjamin, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer und 2020 «Feuer der Freiheit» über Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Simone Weil und Ayn Rand. Die Art und Weise, wie Wolfram Eilenberger, der auch die Sendung «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen moderiert, die Denkwege erzählt und nicht nur erklärt, ist genauso fesselnd wie überzeugend: Philosophiegeschichte als Geschichten der Philosophie.
Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948–1984. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2024. 492 S., Fr. 39.90.