Seit zwei Tagen bombardiert Israels Luftwaffe Hizbullah-Stellungen in Libanon. Hunderte wurden getötet und Zehntausende vertrieben. In Beirut herrscht derweil eine unheimliche Ruhe – ein Augenschein in der libanesischen Hauptstadt.
Der Krieg scheint immer noch seltsam fern in Beirut. Über der Stadt liegt eine eigentümliche Stille. Es scheint weniger Verkehr als sonst zu geben, und manchmal kann man sogar die Vögel zwitschern hören. Doch den Leuten auf der Strasse ist anzusehen, dass die Lage in Libanon aus den Fugen geraten ist. Ein paar alte Männer in einem Café schütteln nur mit den Köpfen, als sie vom Journalisten angesprochen werden. Sie wollen nicht reden, es ist alles zu viel.
Denn während im Zentrum der Hauptstadt so etwas wie eine Ruhe vor dem Sturm zu herrschen scheint, ist über dem Rest Libanons die Hölle losgebrochen. Seit beinahe achtundvierzig Stunden fliegt Israels Luftwaffe ununterbrochen Angriffe auf angebliche Stellungen des Hizbullah. Was genau die Bomben und Raketen treffen, lässt sich kaum überprüfen. In den sozialen Netzwerken tobt ein Sturm aus Videoschnipseln von brennenden Häusern, Rauchwolken und fliehenden Menschen.
Über 500 Tote in 24 Stunden
Seit Montag herrscht in Libanon jener Krieg, den viele befürchtet hatten. Zuvor hatten sich Israel und die Hizbullah-Miliz – welche die Kämpfe aus Solidarität mit der Hamas im vergangenen Oktober einst eröffnet hatte – im Grenzgebiet monatelange Scharmützel geliefert. Doch jetzt haben die Israeli genug. Aus dem scheinbar kontrollierten Grenzkonflikt ist ein grosser Luftkrieg geworden, der Libanon in den Abgrund zu reissen droht.
Allein in den ersten 24 Stunden der israelischen Luftangriffe kamen in dem kleinen Land über 500 Menschen ums Leben, darunter auch viele Frauen und Kinder. Gleichzeitig strömen Zehntausende Verzweifelte aus den Kampfzonen nach Norden, in die vermeintlich sichereren Gebiete rund um Beirut. Aber auch in der libanesischen Hauptstadt hat die israelische Luftwaffe bereits mehrfach angegriffen. Die Angriffe gelten dem schiitisch dominierten Vorort Dahiye, der als Hizbullah-Hochburg gilt.
Libanons bankrotter und kaputter Staat, der nach einer jahrelangen Wirtschaftskrise am Boden liegt, kann das alles nicht stemmen. Zwar wurden überall im Land rasch Schulen zu Flüchtlingsunterkünften umgewandelt. Ob das aber ausreicht, um all die Vertrieben aufzunehmen ist ungewiss. Vor einem Gebäude im Beiruter Viertel Dekwane, wo viele Flüchtlinge untergekommen sind, weist einem das Militär ab. Man könne jetzt nicht rein, heisst es.
«Wir sind doch bloss Zivilisten»
Viele der Flüchtlinge sind privat untergekommen, darunter auch Zeinab, eine 44-jährige Frau aus einem Dorf in der Nähe von Nabatiye im Süden. Über Bekannte hat sie in einer Wohnung im Ort Khalde nahe dem Beiruter Flughafens Unterschlupf gefunden. Sie ist gemeinsam mit ihren Kindern nach einer fast 24 Stunden dauernden Flucht hier angekommen. Sie erzählt, dass zuvor über ihrem Dorf ein Bombenhagel niedergegangen sei. «Wir sind in keiner Partei, wir sind doch bloss Zivilisten,» sagt sie. «Trotzdem bombardieren sie uns.»
Viele Libanesen in der Hauptstadt versuchen derweil verzweifelt, ihre Verwandten im Süden oder im Osten zu erreichen, wo die Bombardements besonders heftig sind. Doch unzählige Flüchtlinge sind in nicht enden wollenden Staus steckengeblieben. «Wir sassen drei Stunden im Auto, ohne vorwärts zu kommen», erzählt Zeinab. «Gleichzeitig waren immer wieder Explosionen zu hören.» Bei dem Angriff auf ihr Dorf sei ihr Mann verletzt worden. Einer ihrer Söhne sei verschollen.
Auf den Strassen um Beirut herrscht Chaos. Am Rand der Küstenautobahn, die hier von Süden her kommend in die Hauptstadt führt, stehen lauter Autos mit offenen Türen. Familien kauern auf dem Teer, Soldaten und Polizisten versuchen den Verkehr zu regeln. Gleichzeitig schauen alle immer wieder hoch zum stahlblauen Himmel. Denn nicht weit von hier liegt Dahiye, das Schiitenviertel, das ebenfalls regelmässig zum Ziel von Angriffen wird.
Iran scheint das alles kaum zu kümmern
Am Montag hatte Israel dort erneut versucht, einen hohen Hizbullah-Kommandanten zu töten. Am Rande der Schnellstrasse, die durch das Viertel hindurchführt, hängen immer noch die riesigen Märtyrerbilder des letzten Gefallenen, Fuad Shukr, der Ende Juli ums Leben kam. Damals trug die Miliz ihren Kommandanten noch mit finsterem Pomp zu Grabe und schwor Rache. Jetzt kommt sie kaum mehr dazu – so heftig sind die Schläge, die auf sie niedergehen.
Die gefürchtete Truppe, die sich gern als Beschützerin Libanons präsentiert, scheint nicht fähig oder willens, den israelischen Angriffen etwas entgegenzuhalten. Zwar schiesst der Hizbullah ebenfalls Hunderte Raketen auf Israel ab. Doch angesichts des Stahlgewitters, das auf die Miliz niedergeht, sowie der israelischen Flugabwehr sind sie praktisch wirkungslos. Derweil scheint sich der grosse Verbündete des Hizbullah – die islamische Republik Iran – kaum um das Schicksal ihrer wichtigsten Miliz im Nahen Osten zu kümmern.
Während der Hizbullah in Libanon unter Dauerbeschuss steht, biedern sich Teherans Abgesandte in den Gängen des Uno-Hauptquartiers in New York bei den Amerikanern und Europäern an. Man sei bereit, über ein neues Atomabkommen zu verhandeln, liessen die Iraner gestern mehrmals verlauten. Die schweren Waffen, die sie dem Hizbullah zur Verfügung gestellt haben und die selbst in Israel gefürchtet sind, werden offenbar erst einmal nicht eingesetzt.
«Schreib einfach was du willst»
Viele Libanesen fühlen sich komplett ausgeliefert. Es ist, als ob die pure Wucht der Angriffe den Leuten die Sprache verschlagen hätte. Selbst diejenigen, die sonst gegen die Macht des Hizbullah protestieren, schweigen. «Das ist Libanon», sagt Georges, ein bärtiger Mann im Christenviertel Geitawi. Er sitzt rauchend vor dem Büro der Libanesischen Kräfte – jener Partei, die sich am lautesten gegen den Krieg gestellte hatte. Reden will er nicht. «Wir werden sehen, was passiert», sagt er nur.
Andere üben sich in Solidarität und nehmen Flüchtlinge auf. Gleichzeitig machen aber auch Gerüchte die Runde, in manchen christlichen Vierteln seien Schiiten nicht willkommen. Viele Christen machen den schiitischen Hizbullah schon lange dafür verantwortlich, ihr Land in den Abgrund zu reissen. Nun, da es tatsächlich soweit ist, scheinen sie wie gelähmt. «Schreib einfach, was du willst», sagt der Sprecher eines wichtigen christlichen Politikers auf Nachfrage.
Derweil fliegt Libanons Fluggesellschaft MEA weiterhin stoisch Passagiere in das untergehende Land. Wie lange das noch gehen wird, ist unklar. Die Angriffe hören nicht auf. Am Dienstagnachmittag sitzen ein paar junge Freiwillige des libanesischen roten Kreuzes vor ihrer Station im Viertel Gemmayze und warten, als plötzlich einer von ihnen an sein Handy geht. In Dahiye habe es einen neuen Luftangriff gegeben, ruft er. Alle springen auf. Das ist jetzt offenbar die neue Normalität in Beirut.