Der Milliardär war Besitzer des Kaufhauses Harrods in London und des Hotels Ritz in Paris. Eine Dokumentation legt seine dunkle Seite dar. Mehr als 100 Frauen werfen ihm schwere sexuelle Übergriffe vor.
Ihre Stimmen zittern, stocken, verstummen. Immer wieder fliessen Tränen. Es sind aufrüttelnde Momente im Dokumentarfilm «Al-Fayed: Raubtier bei Harrods».
Die BBC strahlte die investigative Recherche vergangene Woche aus. 20 Frauen erzählten dem Sender, wie ihr Traum einer Karriere im Londoner Luxuskaufhaus in sexueller Gewalt endete. Fünf von ihnen geben an, vergewaltigt worden zu sein. Die meisten waren knapp 20, ein Opfer war erst 16-jährig.
Es geht um einen einzelnen Täter: ihren damaligen Chef, den Harrods-Besitzer Mohamed al-Fayed. Aber auch um eine Kultur der Angst, ein Netz von Mitwissern und falsche Ehrfurcht vor dem einflussreichen Milliardär. Nicht zufällig erscheinen die Enthüllungen rund ein Jahr nach al-Fayeds Tod im Alter von 94 Jahren.
Gegen Ende des Films sagt eines der Opfer: «Es war ein massiver Ring von Korruption und sexuellem Missbrauch.»
Das Ausmass wird weniger als eine Woche nach der Erstausstrahlung ersichtlich: Im BBC-Film kommen auch zwei Anwälte vor, die 37 Opfer von al-Fayed vertreten. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung der Dokumentation haben sie 150 neue Hinweise von Betroffenen oder Informanten erhalten. Wie der «Guardian» berichtet, haben inzwischen mehr als 100 Frauen gemeldet, von al-Fayed sexuell belästigt oder vergewaltigt worden zu sein.
Lange vor #MeToo
Bereits seit den 1990er Jahren kursierten erste Anschuldigungen gegen den ägyptischen Unternehmer. Immer wieder scheiterten sie offenbar an seiner Macht. Al-Fayed zerrte etwa die «Vanity Fair» wegen Verleumdung vor Gericht. Als erstes Medium hatte das Magazin 1995 über dessen sexuelle Übergriffe an Mitarbeiterinnen berichtet.
Die #MeToo-Bewegung war noch weit weg. Harrods war ein Inbegriff des noblen England, ein Ort, an dem von Lebensmitteln über Designerkleider bis Schmuck alles zu haben war – früher auch exotische Tiere wie etwa Babyelefanten oder Alligatoren.
Bei Harrods gingen die Royals ein und aus, Hollywood-Stars wie Tom Cruise oder Sportgrössen wie Muhammad Ali liessen sich für Galas einspannen. Al-Fayed hatte sich mit dem Kauf des Hauses im Jahr 1985 und als Besitzer des Hotels Ritz in Paris in dieser Gesellschaft etabliert. Später besass er den Fulham FC, was ihn im fussballverrückten England in weiteren Schichten populär machte.
Er mimte den grosszügigen Philanthropen, der für Kinderorganisationen spendete. Und er erntete viel Mitleid, als 1997 sein Sohn Dodi mit der volksnahen Prinzessin Diana tödlich verunfallte. Al-Fayed sei fast unantastbar gewesen, sagt ein Zeitzeuge in der BBC-Dokumentation.
«Er war abscheulich»
Netflix hatte in der erfolgreichen Serie «The Crown» ein Sittengemälde des britischen Königshauses gezeigt. Darin kommt auch Mohamed al-Fayed vor. In der BBC-Dokumentation schaut ein Opfer auf einem iPad eine Szene aus der Serie. Al-Fayed wirke darin gesellig und lustig, sagt sie. «Das macht mich wütend. Er sollte nicht so in Erinnerung bleiben. Er war nicht so. Er war abscheulich.»
Die Aussagen der Opfer zeigen das Bild eines seriellen, berechnenden und durchtriebenen Täters. In ihren Berichten heisst es, dass, wer ihm im Kaufhaus aufgefallen sei, kurz danach zu seiner Assistentin habe aufsteigen können.
Teil der Beförderung soll aber eine sonderbare Praxis gewesen sein: Die Frauen mussten sich ärztlichen Untersuchungen und gynäkologischen Tests unterziehen, das sagten gleich mehrere Opfer der BBC. In der Dokumentation liest eine Betroffene aus ihrem damaligen Ärzterapport vor: «Die gynäkologischen Abstriche, auf Chlamydien inbegriffen, haben keinerlei Infektionen angezeigt – ein sehr beruhigender Befund.» «Beruhigend für wen?», fragt das Opfer rhetorisch.
Die betriebsinternen Mediziner von Harrods begründeten die Tests mit einer angeblichen Immunschwäche von al-Fayeds Sohn Dodi. Deshalb sollten alle nahen Mitarbeiter die Checks über sich ergehen lassen.
Oft umgeben von schillernden Frauen: Mohamed al-Fayed zusammen mit der Schauspielerin Jennifer Love Hewitt (l.) oder der Sängerin Katherine Jenkins.
Von Sicherheitskräften weggelacht
Der Hang zum fragwürdigen Umgang des Chefs mit jungen Angestellten müsse im engen Kreis rund um al-Fayed bekannt gewesen sein. Das sagt Tony Leeming, ein ehemaliger Harrods-Manager, in der BBC-Dokumentation. Leeming hatte häufig Kontakt zu den Sicherheitskräften. Es sei von Grapschen und von mutmasslichen Belästigungen die Rede gewesen. Es sei darüber gelacht worden – und geschwiegen.
Die Übergriffe hätten im Kaufhaus stattgefunden, in al-Fayeds Siedlung an der Park Lane, aber auch auf Geschäftsreisen in Paris und Abu Dhabi. Morgens soll al-Fayed jeweils das Sekretariat angerufen haben. Er habe dann nachgefragt, wer von den Mitarbeiterinnen anwesend sei, habe eine ausgewählt und sie zu ihm hoch ins Büro schicken lassen.
Arbeitete eine Mitarbeiterin bis spät in den Abend, bot er ihr zur Übernachtung eine Wohnung an der Park Lane an, gleich unterhalb seiner eigenen. Der vorsorgliche Chef habe sich aber als Ausbeuter entpuppt. Mehrere Opfer berichten, wie al-Fayed sie in seine Wohnung eingeladen habe und er dort im Bademantel aufgetaucht sei. Danach sei er aufdringlich und brutal geworden. «Er war ein Monster», sagt eine Frau, die als Teenager von ihm vergewaltigt wurde.
Ein ehemaliger Sicherheitsangestellter erzählt, wie er die Ankunft von jungen weiblichen Angestellten abends bei al-Fayeds Wohnhaus beobachtete – und ihren Weggang nach einer Stunde oder erst am Morgen danach. Als er das einem Kollegen schilderte, wurde ihm gesagt: «Wenn dir das nicht passt, dann weisst du, wo die Türe ist.»
13 Frauen sagten gegenüber der BBC aus, al-Fayed habe sie im Wohnhaus an der Park Lane sexuell missbraucht, 4 seien dort vergewaltigt worden.
Klima der Angst
Der Film zeigt auf, wie sich die Frauen machtlos gegenüber dem Milliardär fühlten: in der Öffentlichkeit, angesichts der Justiz und erst recht im eigenen Unternehmen.
Sie befürchteten, Telefone seien verwanzt gewesen. Gespräche über die Übergriffe mit Kolleginnen wurden gemieden – aus Angst davor, von Überwachungskameras gefilmt zu werden. Manche blieben trotz den Belästigungen und den Vergewaltigungen mehrere Jahre. Ein weibliches Opfer erzählt, wie ein Leibwächter plötzlich in ihrer Freizeit auftauchte. Sie deutete es als Drohung.
In der Tat war die Leibwache von al-Fayed mit ehemaligen Polizisten oder Personen aus dem Nachrichtendienst ausgestattet. Als 1995 ein Opfer anonym der «Vanity Fair» für den Skandalbericht Auskunft gegeben hatte, wurde es angeblich von einem Sicherheitsmann al-Fayeds aufgespürt. Ihr und ihrer Familie sei in einem Telefonanruf gedroht worden.
Späte Reaktion
Erst 2017 und im Zuge der #MeToo-Bewegung rund um Harvey Weinstein gab eines der Al-Fayed-Opfer für eine TV-Dokumentation seine Anonymität auf. Ein Jahr später reichte eine weitere Betroffene eine Anzeige ein und gab bei der Polizei ihren Leidensweg zu Protokoll. Konsequenzen gab es keine. Al-Fayed wurde von der Justiz inzwischen als zu alt angesehen.
Mit einem Team von Anwälten wollen Betroffene gegen ihren einstigen Arbeitgeber Harrods vorgehen – weil dieser sie zu wenig geschützt habe. Seit 2010 gehört das Kaufhaus nicht mehr al-Fayed, sondern über die Qatar Investment Authority dem katarischen Staat.
Es sei entsetzt über die Anschuldigungen, schreibt Harrods in einer Stellungnahme. Das Unternehmen habe es damals verfehlt, die Angestellten zu schützen. Heute sei Harrods eine andere Firma. Seit 2023 hat das Kaufhaus mehrere Opfer finanziell entschädigt. Eine eigene Untersuchung in Zusammenarbeit mit den Behörden sei angestossen worden. Harrods will herausfinden, ob Mitwisser immer noch im Betrieb arbeiten.