Die amerikanische Vizepräsidentin hat aus einer schwierigen Startposition einen fulminanten Wahlkampf hingelegt. Doch nun geht es nicht mehr voran. Sie muss ihre Wähler ernster nehmen.
Mehr als ein Jahr lang haben Parteigrössen und Strategen der Demokraten den wahren Gesundheitszustand von Präsident Biden vor der Öffentlichkeit verschleiert und verdrängt. Ein Hauptgrund dafür war die Angst, dass bei einem Rückzug von Bidens Kandidatur die Nomination von Vizepräsidentin Kamala Harris unvermeidlich sein würde. Das sahen sie als das grössere Risiko für den Wahlsieg am 5. November als einen altersschwachen, seine Sätze nicht mehr zusammenbringenden Joe Biden.
Fulminanter Start der Vizepräsidentin
Nun ist der Rückzug Bidens vom Rennen um das Weisse Haus fast zehn Wochen her, und Harris hat ihre Skeptiker in beeindruckender Weise zum Verstummen gebracht. Sie legte sogleich mit Selbstbewusstsein, Energie und überraschendem rhetorischem und taktischem Geschick los. Sie verabschiedete sich von den ewig düsteren Warnungen Bidens vor einem die Demokratie zerstörenden Donald Trump. Stattdessen setzte sie auf Zuversicht, Fröhlichkeit und neckischen Spott. Dank starken Wahlkampfauftritten und einem klaren Sieg in der einzigen Fernsehdebatte der beiden Kandidaten machte sie den scheinbar hoffnungslosen Rückstand Joe Bidens in kurzer Zeit wett.
Doch plötzlich kommt Harris nicht mehr voran. Zwar macht Trump Fehler. Er ignoriert die Ratschläge seiner Parteistrategen. Er geht nicht auf die dringend benötigten Wechselwähler zu. Er gibt sich nicht staatsmännisch wie ein früherer Präsident, sondern attackiert seine Gegnerin mit groben Angriffen und einer geballten Ladung sexistischer und rassistischer Sprüche und Lügen. Trump bleibt jener Trump, der nach seinem Triumph 2016 in allen nationalen Wahlen nur enttäuscht hat.
Und doch scheint ihm das nicht zu schaden oder Harris zu nützen. In nationalen Umfragen kommt Trump unverändert auf 46 und 48 Prozent Zustimmung. Die neunzehn Jahre jüngere Harris hat ihn zwar überholt, aber so knapp, dass das wenig aussagt. In den entscheidenden Swing States stehen die beiden Kopf an Kopf. Das Rennen bleibt offen – seit Wochen, ohne signifikante Änderung.
Harris’ Wahlkampf scheint an eine unsichtbare Wand gestossen zu sein. Der Sieg ist in Griffweite, aber die Vizepräsidentin kann sich nicht entscheidend absetzen. Das kann nicht nur an Harris’ Gegnern liegen. Es wäre höchste Zeit für sie, ihre eigene Strategie zu überprüfen.
Ein Kernelement ihrer Kommunikationsstrategie ist es, eloquent zu reden, aber wenig zu sagen. Damit ist Kamala Harris gewiss nicht allein, die Strategie gehört zum Repertoire professioneller Politiker. Auch Donald Trump ist ein Meister im blossen Behaupten von Sachverhalten, ohne diese zu begründen oder zu vertiefen. Doch Harris kann sich diese Nachlässigkeit weniger leisten als ihr Gegner.
Trump war vier Jahre lang Präsident. Er tanzt nunmehr seit acht Jahren zuvorderst auf der Bühne der grossen nationalen Politik. Wie kein anderer versteht er es, die Medien in seinen Bann zu ziehen. Wenn er ohne Begründung behauptet, den Ukraine-Krieg innert 24 Stunden zu beenden oder die Energiepreise innert 12 Monaten zu halbieren, dann stört das seine Anhänger nicht. Sie haben ein Bild von ihm. Sie beziehen dieses mehr aus seiner ersten Präsidentschaft als aus seinen flotten Sprüchen im jetzigen Wahlkampf.
Harris bleibt die grosse Unbekannte
Nicht so Harris. Sie ist für Millionen Amerikaner die grosse Unbekannte, die gerade erst aus dem Schatten Präsident Bidens hervorgetreten ist. Sie hat mit Geschick ein Image als dynamische, optimistische Kandidatin geschaffen. Doch das reicht nicht. Wie wird eine Präsidentin Harris trotz geplanten höheren Unternehmenssteuern das Wirtschaftswachstum stärken? Wie will sie die versprochenen höheren Sozialausgaben finanzieren, sollte ein von den Republikanern dominierter Kongress die von ihr vorgesehenen Steuererhöhungen blockieren? Wie will sie Präsident Putin an den Verhandlungstisch zwingen oder den mörderischen Einfluss Irans im Nahen Osten zurückdrängen?
Harris hat seit ihrer überstürzten Nomination Pressekonferenzen und Interviews gemieden. Während Trump und J. D. Vance zusammen an 70 Interviews und Pressekonferenzen Journalisten Red und Antwort gestanden sind, kamen Harris und Walz zusammen auf 7. Diese Woche hat die Kandidatin Harris erst ihr zweites Fernsehinterview absolviert, und auch dieses mit einer ihr wohlgesinnten Journalistin auf einem linksliberalen Sender. Erneut liess sie kritische Fragen unbeantwortet. Leerstellen in ihrem Wirtschaftsprogramm überdeckte sie mit schwammigen Formulierungen wie den «Träumen» der Amerikaner, einer «Chancenwirtschaft» oder «fairen Beiträgen» zur Steuerlast.
Nicht nur haben die Wähler ein Recht darauf, zu wissen, was Kamala Harris als Präsidentin in zentralen Politikbereichen plant. Dieses Wissen ist ein zentraler Bestandteil jeder Demokratie. Auch Harris geht damit ein grosses Risiko ein. Sie nimmt die Wähler letztlich nicht ernst. Das kann sie dringend benötigte Stimmen kosten. Denn viele Amerikaner werden bis zum Wahltag nicht sicher sein, ob ihre Stimme für eine ihnen rätselhaft bleibende Präsidentin wirklich ihren Interessen entspricht. So dürften sich manche für den besser bekannten Trump entscheiden und viele ganz auf die Stimmabgabe verzichten. Beides kann sich Harris in ihrer knappen Aufholjagd nicht leisten.