Italiens Ministerpräsidentin und Brüssels Kommissionschefin verbindet mehr als nur Sympathie. Die beiden Frauen brauchen einander politisch.
In Italien nennen sie es den «patto della piadina», den Piadina-Pakt, in Anlehnung an eine Spezialität aus der Emilia-Romagna: dünnes italienisches Fladenbrot, mit Schinken, Käse oder Gemüse belegt, zusammengeklappt und aus der Hand gegessen. Eine Herrlichkeit, von der Ursula von der Leyen geschwärmt hat, als sie am letzten Mittwoch die Stadt Forlì südöstlich von Bologna besuchte und dort mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zusammentraf.
Die vom Unwetter heimgesuchten Menschen hätten ihr eine solche Piadina gereicht, «noch schön warm», als sie im letzten Mai die Region besucht habe, sagte die EU-Kommissions-Präsidentin und punktete damit in einer Gegend, die besonders stolz auf ihre gastronomischen Spezialitäten ist.
Überall sei damals nur «Schlamm, Schlamm, Schlamm» gewesen, doch die Leute hätten in allem Elend eine bemerkenswerte Solidarität und Menschlichkeit an den Tag gelegt. Die Piadina sei Ausdruck dieser Haltung gewesen, sagte von der Leyen am Mittwoch und bekräftigte die Hilfszusage von 1,2 Milliarden Euro aus den Mitteln des Wiederaufbaufonds der EU.
Die Brüder Italiens sind salonfähig geworden
Der Piadina-Pakt zwischen von der Leyen und Meloni geht allerdings über die konkrete Unterstützung für die Bewältigung der Unwetterschäden hinaus. Vielmehr ist er eine informelle politische Übereinkunft zwischen zwei Frauen, die sich bestens verstehen – und aufeinander angewiesen sind. Die gewandelte Postfaschistin und die Christlichdemokratin mögen sich sympathisch sein, doch hinter ihrer wundersamen Freundschaft steckt vor allem politisches Kalkül.
Von der Leyen benötigt mit Blick auf die Europawahlen im Juni die Stimmen von Melonis Fratelli d’Italia. Und die italienische Regierungschefin ihrerseits bedarf des Goodwills in Brüssel, um die Finanztransfers nach Rom abzusichern und um Italien im Fokus der EU zu behalten.
Die deutsche Kommissionschefin, das ist kein Geheimnis, will eine zweite Amtszeit in Brüssel. Erwartet wird, dass sich die 65-Jährige spätestens auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) in Bukarest am 6. März zur Spitzenkandidatin für die Europawahl ausrufen lassen wird. Die meisten Staats- und Regierungschefs unterstützen ihre Wiederwahl. Doch am Ende muss von der Leyen vom EU-Parlament bestätigt werden, und dass sie dort eine Mehrheit findet, ist nicht sicher.
2019 schlug sie der französische Präsident Emmanuel Macron für das Amt vor. Nun soll von der Leyen immerhin den offiziellen Segen der EVP erhalten, die damals den deutschen CSU-Politiker Manfred Weber als Spitzenkandidaten aufgestellt hatte. Weber unterstützt seine einstige Rivalin, doch er verlangt Zugeständnisse. So soll die Klimapolitik der Kommission künftig wirtschaftsfreundlicher sein, und auch bei der Migrationspolitik soll Brüssel einen restriktiveren Kurs fahren – hier hat von der Leyen mit der Asylreform schon vorgelegt.
Auf Weber geht auch die Annäherung an die Fratelli d’Italia zurück, dafür musste sich der Bayer anfänglich den Vorwurf gefallen lassen, er rücke die EVP weit nach rechts. Entgegen ersten Befürchtungen scheint die Regierung in Rom mittlerweile aber doch eine proeuropäische und protransatlantische Richtung einzuschlagen. Weber sieht politische Schnittmengen mit den Fratelli, lobt ihre Politik als «konstruktiv».
Die Stimmen aus Rom könnten für von der Leyen im Sommer entscheidend werden. Auf der anderen Seite goutieren Melonis Parteifreunde, dass die Kommission bei der Asylpolitik auf Härte setzt – und die Milliardenhilfen aus dem Corona-Aufbaufonds für Italien schnell durchgewinkt hat.
Es fällt jedenfalls auf, dass von der Leyen immer dann zur Stelle ist, wenn Meloni ruft. Das war so, als die Italienerin unter dem Druck steigender Migrationszahlen dazu aufrief, mit den nordafrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten Abkommen abzuschliessen. Gegen europäische Finanzzusagen sollten diese die illegale Einwanderung nach Italien und Europa eindämmen. Ein erster – inzwischen misslungener – Testfall war das Abkommen mit Tunesien, bei dessen Unterzeichnung im Juli von der Leyen und Meloni zusammen mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte in Tunis zugegen waren.
Von der Leyen begleitete Meloni auch, als diese im September nach Lampedusa reiste, um einen Augenschein auf der Insel zu nehmen, wo im Sommer Tausende Migranten angekommen waren und unter erbärmlichen Bedingungen betreut werden mussten. Gemeinsam kündigten die beiden Politikerinnen danach einen Zehn-Punkte-Plan zur Verbesserung der Situation an.
Dieser Auftritt war im Übrigen auch eine Ohrfeige für Melonis Koalitionspartner Matteo Salvini von der Lega, der am gleichen Tag seine Anhänger im norditalienischen Pontida versammelte und zu dem Treffen Marine Le Pen, die Ikone der französischen Rechten, aufgeboten hatte.
Der Kontrast war augenfällig – und schlau inszeniert: hier Meloni und von der Leyen, dort Salvini und Le Pen; hier diejenigen, die wirklich etwas gegen die Migrationsmisere tun, dort zwei, die nur grosse Parolen schwingen.
Distanz zu Le Pen und zur AfD
Zweifellos hilft die EU-Kommissions-Präsidentin Meloni dabei, sich ein gemässigteres Image zu geben. Und gleichzeitig erreicht sie damit, dass die Italienerin Distanz hält zu anderen Rechts-aussen-Kräften in Europa. Denn während Salvini auf europäischer Ebene den Schulterschluss mit Le Pen und der deutschen AfD sucht, bewegt sich Meloni im Umfeld der gemässigten bürgerlich-konservativen Kräfte. Ob sie selbst als Kandidatin bei den Europawahlen antritt, ist derzeit noch offen.
Mit Paris und Berlin tut sich die Meloni-Regierung schwer. Die entsprechenden Beziehungen sind nicht einfach und immer wieder Stimmungsschwankungen unterworfen. Mit der Kommissionsspitze in Brüssel ist das Einvernehmen dagegen ziemlich gut.
Meloni kommt das gerade besonders zupass. Innenpolitisch sind ihre Erfolge überschaubar, Skandale und Affären dominieren die Schlagzeilen, die Regierung kämpft auf Nebenschauplätzen. Die Ungeduld gerade in Wirtschaftskreisen über die Equipe im Palazzo Chigi nimmt allmählich zu. Vor diesem Hintergrund ist ein intaktes Verhältnis zur EU von grossem Wert – nicht zuletzt weil die Geldquellen aus dem Wiederaufbaufonds weiter sprudeln. Von der Leyen hat Meloni in Forlì diesbezüglich ein gutes Zeugnis ausgestellt.
Italien, so sagte sie, setze die mit der Auszahlung verbundenen Auflagen um, das Land bewege sich im Rahmen der vorgesehenen Marschtabelle. «Die Hälfte der vorgesehenen Mittel wurden schon überwiesen, das ist eine sehr schöne Nachricht!» Giorgia Meloni strahlte daneben, als habe man ihr gerade eine besonders schmackhafte Piadina serviert.