Die Schweiz will eine Konferenz für ein Kriegsende in der Ukraine organisieren. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
«Neutral zu sein, bedeutet nicht, die Realität zu ignorieren.» Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski signalisierte mit diesem Satz einerseits Respekt gegenüber der Neutralität der Schweiz, andererseits war es auch eine unmissverständliche Aufforderung: Tut etwas für uns! Selenski sagte dies am Montag nach den Gesprächen auf dem bundesrätlichen Landsitz Lohn. Er traf sich dort mit der Bundespräsidentin Viola Amherd sowie den Bundesräten Ignazio Cassis und Beat Jans.
Was die Schweiz tun will, legte die Bundespräsidentin an der gleichen Medienkonferenz am Montag dar. Bern will die Ukraine bei der Organisation eines grossen Friedensgipfels auf Schweizer Boden unterstützen. Weiter in die Details ging Amherd nicht – nicht nur deshalb, weil sehr vieles noch nicht klar ist. Sondern auch, weil sich die Schweiz damit Optionen offenhält. Selenski hat die Russen implizit bereits von der Konferenz ausgeschlossen, indem er sagte, dass die Ukraine offen gegenüber allen sei, «die unsere Souveränität und territoriale Integrität respektieren».
Die inhaltlichen Voraussetzungen für einen Gipfel waren schon vor der Ankunft Selenskis am Sonntag geklärt worden. Am Sonntag empfingen die Schweiz und die Ukraine in Davos die Berater für nationale Sicherheit aus 83 Ländern. Es war die vierte Zusammenkunft in diesem Format. Zuletzt hatte Saudiarabien im August zu einem solchen Gipfel geladen.
Noch sind viele Fragen offen. Eine Übersicht über die wichtigsten Punkte.
Was ist das Ziel des Friedensgipfels?
Das Treffen auf der Stufe der Präsidenten und Ministerpräsidenten legt erst den Boden für mögliche Friedensverhandlungen. Die Ukraine will möglichst viele Länder hinter einer Friedensformel vereinen. Konkret geht es darum, die ukrainische Position international möglichst breit abzustützen. Die Nachkriegsordnung soll nicht nur ein westliches Projekt werden, sondern insbesondere auch die Länder des «globalen Südens» einbeziehen, wie es in der Diplomatensprache heisst.
Am Sonntag vor der Jahresversammlung des Weltwirtschaftsforums (WEF) organisierten die Schweiz und die Ukraine in Davos die Gespräche der Berater für nationale Sicherheit («national security advisors», NSA) gemeinsam. An der letzten Ausgabe dieses NSA-Formats nahmen auch Vertreter Brasiliens, Indiens und Südafrikas teil, also Länder, die nicht zu den direkten Unterstützern Kiews gehören.
Abwesend waren naturgemäss Russland, aber auch China. Bundesrat Ignazio Cassis, der Chef des Aussendepartements (EDA), weckte die leise Hoffnung, dass dieser Vorfriedensprozess später tatsächlich in Verhandlungen mit dem Kreml münden könnte. Sowohl die russische Botschaft in Bern als auch das Aussenministerium in Moskau hielten sich mit Kommentaren zum NSA-Format zurück.
Was beinhaltet die Friedensformel des ukrainischen Präsidenten?
Die inhaltliche Voraussetzung, damit es überhaupt zu einem direkten Austausch zwischen der Ukraine und Russland kommen kann, soll ein Zehn-Punkte-Katalog des ukrainischen Präsidenten Selenski sein. Darin wird der Respekt vor der territorialen Integrität und der Abzug der russischen Truppen aus den besetzten Gebieten verlangt, die Errichtung eines Sondertribunals, um die Kreml-Führung für das Verbrechen des Angriffskriegs vor Gericht zu bringen, und der Schutz der Atomanlagen gefordert.
Bundesrat Cassis erklärte am Sonntag in Davos, dass im Rahmen der Gespräche über die Friedensformel gegenwärtig mehr möglich sei als in der Uno. Tatsächlich sind die Mechanismen der regelbasierten, kooperativen Sicherheitspolitik blockiert, weil Russland mit dem Angriff auf die Ukraine die elementaren Prinzipien der Friedensordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, verletzt hat. Im Uno-Sicherheitsrat hat der Kreml zudem das Vetorecht.
Die Friedensformel ist also auch ein Versuch, dem Geist der Uno-Charta Nachdruck zu verleihen. Damit soll verhindert werden, dass ein Kompromissfrieden den Völkerrechtsbruch des Angriffs belohnt. Die Idee: Je mehr Staaten sich hinter den Zehn-Punkte-Plan als Formel für den Ausstieg aus dem Krieg stellen, desto eher wird verhindert, dass sich Krieg als Mittel der Politik normalisiert.
Was muss passieren, damit Russland in den Prozess einbezogen wird?
Verschiedene Vertreter des Regimes haben Russlands Kriegsziele mehrmals schon unterschiedlich formuliert. Jüngst ist aber auch Präsident Wladimir Putin wieder auf seine ursprünglichen Anliegen zurückgekommen: «Entnazifizierung» und «Entmilitarisierung» der Ukraine. Beides bedeutet die faktische Unterwerfung der Ukraine unter russische Kontrolle. In Putins Verständnis heisst «Entnazifizierung» die Ablösung der gegenwärtigen ukrainischen Führung und «Entmilitarisierung» die militärische Wehrlosigkeit des Nachbarlands. Wenn von Friedensgesprächen die Rede ist, betonen das russische Aussenministerium und der Kreml stets, diese müssten von den «neuen Realitäten» ausgehen. Darunter verstehen sie territoriale Zugeständnisse Kiews.
Russland hat im Herbst 2022 vier ost- und südostukrainische Regionen annektiert – Donezk und Luhansk im Donbass, Saporischja und Cherson im Südosten. Moskau kontrolliert nur Teile der vier Regionen, hat diese aber in ihren administrativen Grenzen in die Russische Föderation aufgenommen und dies in der Verfassung festgeschrieben. Putin hält diese Gebiete für «historisch russische Territorien». Auch von Odessa spricht er als «russischer Stadt», die Regionen Charkiw und Mikolajiw wurden und werden von der russischen Armee angegriffen, und russische Propagandisten halten ohnehin fast die ganze Ukraine, mit Ausnahme des Westteils, für russische Erde.
Ein Verzicht auf die bereits besetzten und in die Föderation einverleibten Gebiete ist schwer vorstellbar. Solange die Voraussetzung für die Teilnahme an einer Friedenskonferenz die Respektierung der territorialen Integrität der Ukraine ist und die Friedenskonferenz überhaupt auf der ukrainischen Friedensformel beruht, ist es nur wenig wahrscheinlich, dass Russland mitmacht.
Am Mittwoch ist Putin an einem Treffen mit kommunalen Funktionären kurz auf den «Verhandlungsprozess» eingegangen. Der Westen wolle damit erreichen, dass Russland auf seine Eroberungen der vergangenen anderthalb Jahre verzichte. Das sei aber nicht möglich – dies wüssten die Regierenden in der Ukraine ebenso wie die westlichen Eliten. Kiews Bedingungen schlössen Verhandlungen zum Vornherein aus. «Wenn sie nicht wollen, müssen wir auch nicht», sagte Putin. Wenn es auf dem Schlachtfeld so weitergehe wie jetzt, da die Initiative bei Russlands Armee liege, werde die Ukraine ihre Staatlichkeit einbüssen.
Daher hängt die russische Teilnahme an einer Friedenskonferenz wohl davon ab, welche Voraussetzungen dafür zu erfüllen sind und welche Bedingungen Russland stellt oder auf welche es bewusst verzichtet. Anders sähe es aus, fühlte sich der Kreml in der Defensive. Das ist derzeit nicht der Fall. In der Gesellschaft ist zwar eine Sehnsucht nach der Beendigung des Krieges spürbar. Insofern könnte der Kreml damit sogar Punkte sammeln. Aber es besteht kein innenpolitischer Druck.
Wer spricht mit Russland?
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Russlands haben sich in den vergangenen bald zwei Jahren seit dem Angriff auf die Ukraine so sehr auf den Krieg ausgerichtet, dass der Weg zurück sowohl macht- als auch wirtschaftspolitisch gar nicht so einfach ist. Geopolitisch stehen in diesem Jahr zudem wichtige Weichenstellungen bevor – etwa durch die Wahlen in den USA. Gut möglich ist es daher, dass Russland pro forma eine gewisse Verhandlungsbereitschaft signalisiert, aber an einem schnellen Ergebnis gar nicht interessiert ist. Ohnehin wird Putin, unabhängig davon, wie der Krieg dereinst enden wird, auf längere Sicht die Ukraine nicht in Ruhe lassen, mit dem Ziel, Kiew den eigenen Willen aufzudrücken.
Das bedeutet nicht, dass Russland mit niemandem spricht. Chinesen, Afrikaner und Inder haben ebenso wie Türken, Amerikaner und wohl auch Schweizer auf unterschiedlichen Ebenen mit Putin und russischen Emissären gesprochen. Anzunehmen ist, dass einer hochrangigen russischen Teilnahme an Friedensgesprächen unterschwellige Gesprächsformate vorangehen müssten. Dass Putin oder auch Aussenminister Sergei Lawrow als Abgesandter des Kremls direkt an einer grossen Friedenskonferenz auftaucht, ist unwahrscheinlich.
Was spricht gegen ein Vertrauen in Russland?
Entscheidend ist die Vorgeschichte. Die Russen und die Ukrainer haben unter internationaler Vermittlung eine Reihe von Abkommen getroffen, die Moskau allesamt brach. Zu nennen wäre das Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland, Grossbritannien und die USA der Ukraine die Unversehrtheit ihrer Grenzen von 1991 garantierten. Im Gegenzug gab Kiew seine Atomwaffen ab. Grosse Bedeutung hatte auch das Minsker Abkommen vom Februar 2015, genannt Minsk II. Unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs wurden ein Waffenstillstand und ein Plan für die stufenweise Reintegration der von Moskau unterstützten abtrünnigen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk vereinbart.
Unterschwellig gingen nicht nur die Kämpfe entlang der Front weiter. Es fehlten auch der Wille und die grundlegenden Mechanismen zur Umsetzung des Abkommens, das besonders von Moskau immer wieder hintertrieben wurde. Minsk II gilt in der Ukraine als Inbegriff eines Diktatfriedens. Deshalb fehlt jegliches Vertrauen, dass sich Moskau an Abmachungen hält. Für den Westen heisst das auch, dass die Ukrainer skeptisch gegenüber internationalen Sicherheitsgarantien bleiben.
Welche Rolle spielt China?
Chinas Teilnahme könnte es erleichtern, Kompromisse zu finden, die auch für Moskau annehmbar sind. Umgekehrt dürfte sich Peking an einer Friedenskonferenz, an der Russland fehlt, kaum weit aus dem Fenster wagen wollen. China hat zwar früher als andere Staaten versucht, eine eigene Initiative zur Beendigung des Krieges einzubringen. Diese blieb aber stark auf Russlands Anliegen fixiert und gleichzeitig so unkonkret, dass nie ganz klar wurde, welche Absichten Peking wirklich damit verfolgt.
Ohne die Teilnahme von Staaten wie China, Indien, Saudiarabien oder Brasilien, die Moskau ein gewisses Verständnis entgegenbringen, kann eine solche Konferenz allenfalls Vorschläge ausarbeiten, die dann den Boden für eine «richtige» Friedenskonferenz bereiten. Schwierig ist das allerdings, wenn diese primär auf der ukrainischen Friedensformel beruhen. Diese ist für Moskau nicht akzeptabel. Geklärt werden müsste generell das strategische Ziel einer Friedensvereinbarung und die Frage, wie eine solche garantiert werden könnte.
Welche Rolle spielt Deutschland?
Offiziell zeigt sich die deutsche Regierung zwar offen für Friedensgespräche. Klar ist aber, dass sie wenig vom Schweizer Vorstoss hält. Die Schweizer Konzeption der Neutralität hält man in Berlin für «unmoralisch». Eine ähnliche Haltung vertritt auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Vielmehr müsse die Ukraine weiterhin Waffen und Geld erhalten.
In diplomatischen Kreisen ist deshalb die Auffassung verbreitet, dass Russland nie an einen Tisch zu bewegen ist, solange von der Leyen den Vorsitz der EU-Kommission hat. Und solange nicht klar ist, wie Russland ernsthaft in Friedensbemühungen eingebunden werden soll und wie ein wie auch immer gearteter Frieden angestrebt werden soll, bleiben die Aussichten für eine erfolgreiche Friedenskonferenz gering. Bis jetzt bleibt insbesondere unklar, wie ein solcher Frieden aussähe und wer ihn garantieren soll. Solange diese Fragen offenbleiben, läuft der Schweizer Vorstoss Gefahr, als PR-Aktion und Selbstüberschätzung wahrgenommen zu werden.
Welches sind die Erfolgschancen einer Friedenskonferenz?
Die Schweizer Diplomatie will zuerst China einbeziehen. Idealerweise treffen sich der chinesische Ministerpräsident und der ukrainische Präsident bereits am WEF in Davos. Gelingt das nicht, soll Bundesrat Cassis nach Peking reisen. Denn offensichtlich soll China nicht nur die Prinzipien der Friedensformel unterstützen, sondern den Kanal zum Kreml öffnen. Der Weg zum Frieden, so ist in Davos zu hören, führt über Peking.
Entscheidend ist aber auch die Position der USA. Mit dem Caucus in Iowa haben am Montag die Vorwahlen begonnen – die wichtigste Schutzmacht der Ukraine ist bis im November im Ausnahmezustand. Eine Neuauflage von Donald Trumps Präsidentschaft würde die Unterstützung des ukrainischen Kampfs um die Freiheit infrage stellen. Auch deshalb dürfte Washington Sympathien haben, dass in Davos mehr über den Frieden als über den Krieg gesprochen wird.
Was verspricht sich die Schweiz von einer Friedenskonferenz?
Die Schweiz hat keine wirklichen Hebel, um insbesondere China und weitere entscheidende Staaten zu einer Teilnahme zu bewegen. Ein Problem könnte auch darin bestehen, dass sich die Schweiz mit der jetzigen Initiative stark mit der ukrainischen Friedensformel verbunden hat. Weil diese für Moskau inakzeptabel bleibt, ist der Weg über Peking ein zentraler Schritt, um aus dem Vor- einen Friedensprozess zu machen.
Die Schweiz positioniert sich klar auf der Seite der Uno-Charta und setzt die Neutralitätspolitik als flexibles Mittel ihrer Aussenpolitik ein: Sie ist ein westliches Land, das aber militärisch nicht in den Krieg eingreift. Im Kern verwirklicht der Bundesrat das Konzept der «kooperativen Neutralität», mit dem EDA-Chef Cassis im Spätsommer 2022 noch gescheitert war. Die Schweiz verspricht sich nichts mehr als die Fortsetzung des Sonderfalls mitten in Europa.