Zum ersten Mal seit zehn Jahren wird im neu geschaffenen Unionsterritorium Jammu und Kaschmir gewählt. Die Zentralregierung freut sich über die rege Beteiligung. Und verschweigt, dass das nicht überall der Fall ist.
Die Wahlen wurden Jammu und Kaschmir, diesem neu geschaffenen, indischen Unionsterritorium, letztlich aufgezwungen. Das Oberste Gericht Indiens hat im Dezember 2023 verfügt, dass wieder ein lokales Parlament gewählt werden soll. Das letzte Parlament hat die Stimmbevölkerung in der Himalaja-Region vor zehn Jahren gewählt. Es wurde 2019 aufgelöst. Das neue Parlament wird eines sein, das nur wenige Kompetenzen in diesem indischen Teil Kaschmirs haben wird. Aber der Schein von Demokratie soll gewahrt bleiben.
Bis 2019 war Jammu und Kaschmir ein Teilstaat Indiens mit weitreichenden Autonomierechten, einer eigenen Verfassung, einer eigenen Flagge, Kontrolle über die Sicherheitskräfte und Sonderrechten für die lokale Bevölkerung. So durften beispielsweise nur Einheimische im Teilstaat Land kaufen. Aussenstehenden blieben Investitionen im pittoresken Kaschmirtal verwehrt.
Es war ein Wahlversprechen von Indiens Hindu-nationalistischem Premierminister Narendra Modi, die Himalaja-Region stärker an Indien anzubinden. Der Entscheid, den seit über 70 Jahren geltenden Autonomiestatus zu beenden und die Region in ein Unionsterritorium umzuwandeln, wurde 2023 vom Obersten Gericht gestützt.
Neun Millionen Stimmbürger werden zur Wahl gerufen
Seit dem 18. September werden also die rund neun Millionen Stimmberechtigten von Jammu und Kaschmir an die Urne gerufen. Das Unionsterritorium ist in diese zwei Gebiete unterteilt: Jammu heisst der flachere Teil, Kaschmir das Berggebiet mit Srinagar als Verwaltungssitz auf 1700 Metern über Meer. In drei Phasen wird in der Region gewählt. Am 1. Oktober findet die dritte Phase statt. Knapp eine Woche später werden die Resultate erwartet.
Die Wahlbeteiligung in den beiden bisherigen Phasen ist bereits bekannt. Und sie gibt ein Stimmungsbild der Region: In den Gebieten, wo mehrheitlich Hindus wohnen, ist die Wahlbeteiligung gross; teilweise beträgt sie bis zu 80 Prozent. In den muslimischen Gebieten, vor allem im Kaschmirtal und rund um den Verwaltungssitz Srinagar, beträgt die Wahlbeteiligung in gewissen Bezirken nicht einmal 20 Prozent. Die Regierung unterschlägt die Unterschiede und zeigt sich erfreut, dass die Wahlbeteiligung bisher im Schnitt fast 59 Prozent betrage.
Die geringe Wahlbeteiligung in Gebieten, wo hauptsächlich Muslime wohnen, wird als Protestakt gegen die Zentralregierung in Delhi gewertet. Die schon länger geäusserte Angst, dass im Norden Indiens eine «Hinduisierung» stattfindet, sehen viele als bestätigt. In den letzten Jahren sind tatsächlich vermehrt Wanderabeiter von südlicheren Regionen in die Himalaja-Region gezogen, motiviert von der Zentralregierung.
Terroranschläge trotz grossem Sicherheitsaufgebot
Modi hat 2019 die Umwandlung von Jammu und Kaschmir in ein Unionsterritorium damit begründet, dass die Teilautonomie die wirtschaftliche Entwicklung behindert und stattdessen den Terrorismus gestärkt habe. Tatsächlich ist gerade das Kaschmirtal seit Jahrzehnten ein Rückzugsort für muslimische Separatisten, die sich von Indien loslösen wollen. Pakistan, das ebenfalls Anspruch auf diesen Teil Kaschmirs erhebt, hat in den vergangenen Jahrzehnten islamistische Gruppierungen und Terroristen im Kampf gegen Indien unterstützt.
Gleichzeitig mit dem Entscheid, die Teilautonomie abzuschaffen, hatte Indien in der Region rigoros durchgegriffen. Um Aufstände zu verhindern, wurden Hunderte von Politikern verhaftet. Das Internet war monatelang offline oder funktionierte nur eingeschränkt. Doch trotz einem Grossaufgebot von Sicherheitskräften kam es zu terroristischen Anschlägen: 2021 schüchterten muslimische Extremisten hinduistische Wanderarbeiter ein. Dutzende wurden ermordet oder verletzt. Die Regierung rief damals die hinduistischen Bewohner und Neuzuzüger auf, Schutz an sicheren Orten wie Schulen zu suchen.
Die Region gehört zu den am meisten militarisierten Gebieten der Welt. Nirgends in Indien sind so viele Sicherheitskräfte im Einsatz wie in Jammu und Kaschmir. Diese sichern auch nun die Wahl, die bisher friedlich verlief. Allerdings hat der Tod des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah gemäss Medienberichten am vergangenen Wochenende Tausende in Kaschmir auf die Strassen getrieben, was nun in der dritten Wahlphase für Spannungen in der Region sorgt. Viele der in Kaschmir lebenden Muslime gehören wie Nasrallah zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam.