Ein Fünftel der globalen Ölversorgung liegt in Irans Machtbereich. Drei Szenarien sind denkbar, wie sich der Preis des weltweit wichtigsten Rohstoffs entwickeln wird.
Wenn der Iran angreift, kehrt der Nahost-Konflikt mit blinkenden Warnungen zurück auf die Bildschirme der Börsen- und Rohstoffhändler. Der Grund ist immer derselbe: Erdöl.
Sobald die Mullahs mitmischen, mutiert der oft als regionales Problem abgetane Krieg Israels gegen Hamas und Hizbullah zum potenziellen Problem für die Weltwirtschaft.
Vor fast einem Jahr haben die Hamas-Terroristen Israel überfallen. Der bis heute anhaltende Krieg bewegte den Erdölpreis lange Zeit wenig – dafür liegt Israel zu weit entfernt von den wichtigsten Produktionsstätten des Nahen Ostens. Erdöl war relativ günstig, auch weil ein Überangebot herrschte: Die Nachfrage war aufgrund gedämpfter Konjunktur in Europa und China schwach und die Ölproduktion in den USA hoch.
Eskalation treibt kurzfristig den Ölpreis an
Statt einem Überangebot macht nun die Sorge vor einer Knappheit die Runde: Mit dem Raketenangriff des Iran auf Israel hat der Konflikt am Dienstag eine neue Dramatik erreicht. Der Preis für ein Fass Rohöl der Referenzsorte Brent stieg zeitweise um 5 Prozent. Auch am Mittwoch legte er zu und steht nun bei rund 76 Dollar.
Je nachdem, wie sich der Konflikt entwickelt, halten Analysten der UBS im Extremfall einen Preis von über 100 Dollar für möglich – und das über mehrere Wochen hinweg. Das Problem: Mit einem Einbezug des Iran könnte sich der Krieg auf die Versorgung der Welt mit rund einem Fünftel des täglich benötigten Erdöls auswirken.
Wie wahrscheinlich ist solch ein Ölpreisschock? Das hängt stark vom militärischen Verlauf des Konflikts ab. Israelische Regierungsvertreter kündigten an, den iranischen Raketenangriff vergelten zu wollen. Teheran wiederum stellte in Aussicht, im Falle eines Angriffs durch Israel noch heftiger zurückschlagen zu wollen.
Drei Szenarien sind möglich – und keines bietet dauerhaft Entwarnung.
Szenario 1: Israel greift Öl-Infrastruktur in Iran an
Iran ist ein wichtiges Ölland. Seine Reserven zählen zu den grössten der Welt. Es ist Mitglied der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), unterliegt aber nicht den Mengenbeschränkungen, mit denen das Kartell den Weltmarktpreis beeinflussen will. Dieses Privileg darf Teheran geniessen, weil dem Land die Hände anderweitig gebunden sind: Der damalige amerikanische Präsident Donald Trump hat im Jahr 2018 wegen des iranischen Atomprogramms Sanktionen gegen die Ölexporte erlassen.
Zuletzt förderte Iran laut der Rating-Agentur Standard & Poor’s rund 3,8 Millionen Fass pro Tag. Das entspricht knapp 4 Prozent der weltweiten Produktion. Davon wurden rund 40 Prozent exportiert – aber wegen der Sanktionen nicht in den Westen, sondern mit teilweise zwielichtigen Mitteln nach Asien, Indien und China. Für den Iran ist dieser Handel eine wichtige Einnahmequelle, auch wenn iranisches Öl mit Preisabschlägen verkauft wird.
Wegen dieser grossen Bedeutung wäre es denkbar, dass Israel insbesondere die Erdölinfrastruktur des Iran angreift. Weil das Land über keine ausgeprägten Luftverteidigungssysteme verfügt, wäre es dem Beschuss ziemlich hilflos ausgeliefert. Ein mögliches Ziel: die Insel Charg, etwa 30 Kilometer vor der iranischen Küste im Persischen Golf gelegen, wo Iran seine wichtigsten Export-Terminals unterhält.
Iran würde ein solcher Schlag gegen die heimische Ölindustrie hart treffen, sagt Mahdi Ghodsi, ein iranisch-österreichischer Ökonom, der an der Wirtschaftsuniversität Wien lehrt: «Der Handel mit Erdöl war in den letzten Jahren für beinahe das gesamte Wirtschaftswachstum des Landes verantwortlich.»
Oft habe Iran sein Erdöl für Lebensmittel oder andere Rohstoffe eingetauscht, um so die Sanktionen leichter zu umgehen, sagt Ghodsi. Wenn Israel nun Irans Ölproduktion angreift, könnte das iranische Regime in Schwierigkeiten geraten, überhaupt noch Finanzmittel für seine Importe zu finden.
Aufgrund der relativ geringen Exportmenge Irans wären die Folgen eines solchen Szenarios für die weltweite Versorgung aber zu verkraften – auch wenn der Preis sicherlich reagieren würde.
Szenario 2: Die Strasse von Hormuz wird blockiert
Bedroht wird die Versorgung, wenn Iran zu noch schwerwiegenderen Kriegshandlungen schreitet und die Durchfahrt durch die Strasse von Hormuz blockiert. Zum Beispiel, um Druck auf die USA auszuüben. Das hätte für die Weltwirtschaft gravierende Konsequenzen und dürfte den Erdölpreis etwa nach Einschätzung der UBS auf über 100 Dollar je Fass treiben.
Die Strasse von Hormuz ist die Meerenge, an welcher der Persische Golf in den Golf von Oman mündet. Sie ist das Nadelöhr des globalen Ölhandels. Über ein Fünftel des weltweit verbrauchten Öls wird auf dieser Route exportiert – von Produzenten wie Saudiarabien, Kuwait, Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Qatar verschifft verflüssigtes Erdgas (LNG) auf diesem Weg.
An der engsten Stelle liegen zwischen den Küsten Irans und Omans weniger als 50 Kilometer, die von den Öltankern genutzten Fahrrinnen sind sogar nur 3 Kilometer breit. Iran könnte Handelsschiffe beschiessen, ähnlich wie es das im Ersten Golfkrieg in den 1980er-Jahren tat. In einem Extremfall könnte Teheran sogar versuchen, die Strasse von Hormuz mit Seeminen komplett zu schliessen.
Die meisten Experten halten es trotz der jüngsten Raketenattacke für unwahrscheinlich, dass Iran die Strasse von Hormuz demnächst blockieren wird. Das Land hat in der Vergangenheit immer wieder mit diesem Schritt gedroht, ihn aber nie getan.
Denn Iran müsste mit schweren Gegenmassnahmen rechnen, nicht nur durch die israelische Regierung. Zahlreiche Akteure haben ein grosses Interessen daran, dass der Handel durch die Meerenge offen bleibt. Auch die USA unterhalten militärische Stützpunkte in der Gegend, um den Schiffsverkehr sicherzustellen.
Doch Ökonom Ghodsi schliesst das Szenario nicht aus: «Ist das iranische Regime einmal in die Ecke gedrängt, ist ihm alles zuzutrauen.»
Szenario 3: Das Ölgeschäft wird vorerst verschont
Der iranische Angriff auf Israel am Dienstag war massiv, historisch betrachtet aber nicht einzigartig. Schon im April dieses Jahres wurden Raketen von Iran nach Israel abgefeuert, die grosse Eskalation blieb jedoch aus. Israel wählte eine massvolle Reaktion, um keine Spirale auszulösen. Der Ölpreis stieg kurzzeitig bis auf rund 88 Dollar je Fass an, fiel aber rasch wieder zurück.
Eine Rolle spielt dabei auch, dass der Westen mit der Zeit unabhängiger von Erdöl aus dem Nahen Osten geworden ist. Vor 50 Jahren war das noch anders: Im Jahr 1973 verhängten arabische Produzenten ein Ölembargo gegen die USA, als Washington Israel im Jom-Kippur-Krieg unterstützte. Der Ölpreis verdoppelte sich. 1979 liess die Revolution in Iran, mit der die Mullahs an die Macht kamen, den Preis explodieren – denn nach dem Umsturz brach die iranische Förderung ein.
Einen offenen Krieg mit Iran dürfte Israel genau abwägen. Die politischen wie auch die finanziellen Kosten wären hoch: Standard & Poor’s senkte am Dienstag die Note für Israels Kreditwürdigkeit um eine Stufe, ähnlich wie vor wenigen Tagen die Konkurrentin Moody’s. Fitch hatte Israels Bonität bereits Mitte August zurückgestuft. Die Benotung israelischer Staatsanleihen liegt jedoch noch innerhalb der für Anleger wichtigen «investment grade»-Kategorie.
Für Mahdi Ghodsi hängt die weitere Entwicklung des Ölpreises nun von Israels Reaktion ab: «Wenn die Öl-Infrastruktur des Irans verschont bleibt, könnte sich das Marktumfeld beruhigen und der Ölpreis wieder sinken. Aber selbst dann besteht die Gefahr, dass Iran den Konflikt im nächsten Schritt noch weiter anheizt.»