Die Affäre sei ein weiteres Beispiel für die schwere Last, die Rom im Kampf gegen Pädophilie und Missbrauch zu tragen hat, schreibt der französische Schriftsteller Pascal Bruckner. Der Katholizismus sterbe an seinem Schweigen.
In einer Zeit, in der sexuelle Übergriffe zu den schlimmsten Verbrechen zählen, klingen die Enthüllungen zu Abbé Pierre wie ein zweiter postumer Tod. Dieser Franz von Assisi des 20. Jahrhunderts war ein Experte für Fälschungen. Der Erste, der ihn in den 1950er Jahren an den Pranger stellte, war Roland Barthes in seinen «Mythen des Alltags»: «Der Mythos des Abbé Pierre verfügt über einen wertvollen Trumpf: den Kopf des Abbé. Es ist ein schöner Kopf, der deutlich alle Zeichen des Apostolats aufweist: den gütigen Blick, den franziskanischen Haarschnitt, den Bart des Missionars, all das ergänzt durch die Lammfelljacke des Arbeiterpriesters und den Stock des Pilgers. So verbinden sich die Chiffren der Legende und der Moderne.»
Der Abbé war nach den Codes der katholischen Heiligkeit aufgebaut. Hinter dem Äusseren regte sich eine dunkle Seele. Henri Grouès, genannt Abbé Pierre, war der Sohn reicher Seidenfabrikanten aus Lyon, die sich um Obdachlose kümmerten: Am Sonntag wurden die Bürger zu Friseuren und Barbieren für die Bedürftigen. Jede Familie, die etwas auf sich hielt, hatte ihre Armen, um die sie sich wie um eine kleine Herde von Seelen kümmerte, die ihr das Heil im Jenseits sichern sollte.
Mit 16 Jahren verliebte sich Abbé Pierre auf den ersten Blick in Gott und beschloss, dem Franziskanerorden beizutreten. Schon damals war er von unwiderstehlichen fleischlichen Versuchungen gegenüber seinen Mitschülern geplagt, die er mit Selbstkasteiungen bekämpfte. Schliesslich trat er den Kapuzinern bei, legte ein Armutsgelübde ab und verzichtete auf sein Familienerbe.
Im Jahr 1938 wurde er zum Priester geweiht, zusammen mit dem späteren Kardinal Jean Daniélou, der 1974 mutmasslich während eines Orgasmus in den Armen einer gewissen Gilberte S., genannt Mimi oder Gaby, in einem Bordell in Pigalle, wo sie arbeitete, starb. Zwei Gewissensbisse plagen die römische Kirche seit ihren Anfängen unermüdlich: Sex und Geld.
Notunterkünfte gegen den Erfrierungstod
Während des Krieges baute Abbé Pierre ein Partisanen-Netzwerk im Vercors auf, schmuggelte Widerstandskämpfer in die Schweiz und schloss sich 1944 General de Gaulle in Algier an. Nach dem Krieg engagierte er sich in der Politik und gründete 1949 Emmaus. Diese Bewegung gegen Ausgrenzung rekrutierte zerrüttete Menschen, die der Abbé rettete, indem er sie in den Dienst der Bedürftigen stellte.
Am 1. Februar 1954 rief Abbé Pierre während eines mörderisch kalten Winters über den Sender RTL zum «Aufstand der Güte» für die Obdachlosen auf und sammelte 500 Millionen Francs. 2 Millionen spendete allein Charlie Chaplin, der bei dieser Gelegenheit ausrief: «Ich gebe sie nicht, ich gebe sie zurück.»
Der Abbé liess Notunterkünfte aus rezykliertem Material errichten, die später in Sozialwohnungen umgewandelt wurden. Ausserdem setzte er sich für die Verabschiedung eines Gesetzes ein, das es Vermietern verbot, Mieter im Winter auszuweisen. Von diesem Zeitpunkt an war er die beliebteste Persönlichkeit der Franzosen und der Erfinder des «Gesetzes des Medienrummels», wie es sein Freund, der ehemalige französische Kulturminister Bernard Kouchner, einmal formuliert hatte.
Aber er bot bald Stoff für andere Schlagzeilen. Im Jahr 1996 unterstützte er den Holocaust-Leugner Roger Garaudy, einen ehemaligen Stalinisten, der zum Islam konvertiert war. Er bestritt die Existenz der Gaskammern und äusserte sich wenig freundlich über den Staat Israel, obwohl er im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet hatte. Er und andere empörten sich über die Haftbedingungen der italienischen Brigadisten und traten in der Kathedrale von Turin in einen achttägigen Hungerstreik.
Der Abbé wurde nicht mehr allein gelassen
Sein Leben lang wurde der Abbé in seinen Verfehlungen durch die Omertà der katholischen Kirche und die Blindheit der Medien geschützt. Wie kann man sich nicht über das Erstaunen der Presse im Sommer 2024 wundern, wo doch alles seit langem bekannt und an die Öffentlichkeit gelangt war? Der Abbé hatte seine Verirrungen 2005 in einem Interviewbuch mit dem Titel «Mon Dieu . . . pourquoi?» gestanden.
Im Jahr 1998 behauptete die Schweizer Prostituierte Grisélidis Réal in der Sendung «Ciel, mon mardi!», sie habe Abbé Pierre in einem Genfer Bordell gesehen: «Ich fand es wunderbar, diese Person dort zu sehen (. . .) Er war ein aussergewöhnlicher Mensch, der der Menschheit viel Gutes getan hat und den ich unendlich respektiere (. . .). Ich habe nie darüber gesprochen, aber heute kann ich nicht mehr schweigen.»
Der ehrwürdige Wohltäter wurde nicht nur von den Qualen des Fleisches geplagt und zwischen dem Dogma und den Trieben der Begierde hin- und hergerissen, er war in den 1950er Jahren vom Sex besessen und wurde von den kirchlichen Behörden überwacht und betreut, damit er nie allein blieb. Während einer Reise in die Vereinigten Staaten im Jahr 1955 machte er durch sein schamloses Verhalten Schlagzeilen. In Quebec wurde er 1959 erneut straffällig und musste das Land fluchtartig verlassen, da er von der Polizei verfolgt wurde.
Die Kirche hatte ihn jedoch bereits 1957 in eine psychiatrische Klinik in der Schweiz eingeliefert, wo er lange Schlafkuren absolvierte und mit Medikamenten vollgepumpt wurde. Man dichtete ihm verschiedene Krankheiten an und befahl ihm, für ein Jahr aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. Die Leiter von Emmaus flehten ihn an, sich aus der Organisation zurückzuziehen, um ihr Image der Reinheit zu wahren.
Als der gaullistische Minister Edmond Michelet in den 1960er Jahren seine Absicht verkündete, Abbé Pierre einen Orden zu verleihen, riet ihm der damalige Erzbischof von Paris, Kardinal Feltin, vehement davon ab: «Der Betroffene ist schwer krank (. . .), und ich denke, dass es aufgrund dieser sehr schmerzhaften Umstände besser ist, nicht über diesen Abbé zu sprechen.» Die Institution entschied sich für die Camouflage.
Ein heikles Kalkül: Abbé Pierre verbesserte das Image Roms, riskierte aber, es durch unschickliche Enthüllungen wieder zu beschädigen. Der heilige Mann ist gebrochen: Man wird die Verfehlungen bis zu seinem Tod kaschieren, in der Hoffnung, dass nichts durchsickert und die Opfer schweigen.
Der Mann des Winters 1954 war ein Idol: Zeugen berichten, dass sich bei jedem öffentlichen Auftritt Trauben von Menschen, vor allem Frauen, auf ihn gestürzt hätten, um ihm die Knöpfe von seiner Saharajacke und die Haare aus dem Bart zu reissen. Als zwanghafter Grapscher soll er sogar ein achtjähriges Mädchen verfolgt haben, und man denkt in diesem Zusammenhang an Charles Laughtons grossartigen Film «Die Nacht des Jägers» mit Robert Mitchum als psychopathischem Prediger.
Der Katholizismus stirbt am Schweigen
Der erotische Eifer des heiligen Mannes war so gross, dass ihm Aufpasser zur Seite gestellt wurden, sobald er mit einer Frau zusammen war. Ein regelrechter Cordon sanitaire umgab ihn, um zu verhindern, dass er die Brüste seiner Verehrerinnen berührte. Papst Franziskus selbst, ein Jesuit durch und durch, gab im Sommer zu, dass er von diesen Machenschaften wusste, aber nichts dagegen unternommen hatte.
Die Affäre ist ein weiteres Beispiel für die schwere Last, die Rom im Kampf gegen Pädophilie und sexuellen Missbrauch zu tragen hat. Der Islam stirbt an seiner Gewalt, der Katholizismus an seinem Schweigen.
Heute bricht sich der Skandal umso heftiger Bahn, als man keine Anstrengung gescheut hatte, ihn zu vertuschen. Abbé Pierre von Plätzen, Institutionen und Schulgebäuden, die seinen Namen tragen, zu entfernen, wird nur unterstreichen, was man ungeschehen machen möchte.
Was immer er auch verbrochen hat, er bleibt der Mann des Aufrufs vom Februar 1954. Ohne seine Energie und ohne seinen Mut wären Zehntausende Franzosen wegen Kälte und Hunger gestorben. Er ist zugleich Held und Täter.
Wenn man schon für die Wahrheit kämpft, warum sollte man dann nicht auch andere Idole zerschlagen? Mutter Teresa zum Beispiel. Der Journalist Christopher Hitchens hat in einer Recherche ihre zweifelhaften Methoden aufgedeckt. Sie schien die Armut mehr zu lieben als die Armen, Sterbende auf den Strassen von Kalkutta drängte sie für einen Teller Suppe oder eine Liege in ihrem Hospiz zur Bekehrung.
Oder warum soll man sich nicht Che Guevara vorknöpfen, den zwanghaften Mörder und Todesschützen in Kuba, der sich weit von seinem christlichen Image entfernt hatte? Oder die Aktivistin Angela Davis, diese fanatische Anhängerin des kommunistischen Regimes zu Zeiten der UdSSR und Feindin aller Dissidenten, unter ihnen Solschenizyn? Seien wir Ikonoklasten bis zum Ende.
Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.