Das Referenzjahr für viele Bevölkerungs- und Wirtschaftszahlen ist in Indien 2011. Der Premierminister Modi hat bisher verhindert, dass eine neue Volkszählung stattfindet. Er hat Gründe.
In Indien, so steht es in der Verfassung, soll alle zehn Jahre eine Volkszählung durchgeführt werden. Schon unter britischer Herrschaft wurden fleissig Daten erhoben. 1951, kurz nach der Unabhängigkeit, wurde gezählt. Sogar in Kriegszeiten wie 1971, während des dritten indisch-pakistanischen Krieges, führte der Staat eine Volkszählung durch. Gleichgültig, was passierte: Immer Anfang des Jahrzehnts kamen die neuen Zahlen. Doch dann, als es dank der Digitalisierung noch nie so einfach war, Daten zu erheben und auszuwerten, kam die Maschinerie ins Stocken.
2021 hätte die letzte Volkszählung abgeschlossen sein sollen. Rund fünfzehn Monate dauern in der Regel die Erhebung und Auswertung. Die Regierung von Premierminister Narendra Modi schob die Corona-Pandemie als Entschuldigung vor. Doch die Pandemie ist jetzt schon lange vorbei und noch immer wurde nicht mit dem Zählen begonnen.
Das sorgt je länger, je mehr für Unmut im Land. Kritik kommt von verschiedenen Seiten: Die Opposition reklamiert lautstark, was zu erwarten ist. Schwer wiegt auch die Kritik aus der Zunft der Ökonomen. Selbst innerhalb der Regierung und bei regierungsnahen Institutionen wie der State Bank of India, die zur Hälfte dem indischen Staat gehört, wird aufgemuckst.
Auch der ehemalige Chefstatistiker reklamiert
«Die Qualität jeder statistischen Erhebung», sagte Indiens ehemaliger Chefstatistiker Pronab Sen im Juli gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, «hängt von den Daten der Volkszählung ab».
Zum letzten Mal wurden 2011 Daten zu Haushaltsgrösse, Beschäftigung, Einkommen, Wohnsituation, Alphabetisierung, Kindersterblichkeit, Migrationsmustern und anderem systematisch erhoben. In einem Land, das sich rasant entwickelt, ist das für viele Statistiker und Ökonomen viel zu lange her: Die Inflations- und Beschäftigungsprognosen beispielsweise seien von der mangelhaften Datenlage beeinflusst.
Auch möchte mancher Verantwortliche im Städtebau oder im Gesundheitssektor gerne genauer wissen, wie und wo die Urbanisierung voranschreitet oder wie schnell die Bevölkerung altert. Auch staatliche Programme zur Unterstützung der Armen sind auf aktuelle Daten angewiesen. Und Wirtschaftsförderer brauchen genauere Daten aus den Gliedstaaten, um Investoren aus dem In- und Ausland den Weg zu weisen. Doch sie alle müssen sich gedulden.
Die Hindu-nationalistische Regierung reagiert zögerlich auf die Kritik. Jüngst hiess es, im September würde die Volkszählung starten. Dafür gibt es aber noch keine Belege. Sie gibt bloss vage bekannt, dass 2026 die Resultate vorliegen sollen.
Nach den Wahlen ist vor den Wahlen
Erst 2026? Wieso erst dann? Technische Hürden hätten überwunden werden müssen, ist aus Regierungskreisen zu vernehmen. Gewiefte Beobachter der indischen Innenpolitik sehen aber einen anderen Grund: In einem Passus der indischen Verfassung sei festgehalten, schreibt die Tageszeitung «The Hindu», aufgrund welcher Daten die Wahlkreise für die 542 Sitze der Lok Sabha, dem indischen Parlament, gezogen würden. In der Verfassung steht, dass dies für die nächsten Wahlen 2029 auf der Basis der ersten Volkszählung nach 2026 geschehen soll.
Im Juni wurde Narendra Modi zum dritten Mal zum Premierminister gewählt. Seine Partei hat aber im Vergleich zu den Wahlen von 2019 deutlich Sitze eingebüsst. Modi verpasste im Parlament die absolute Mehrheit und regiert nun mit Verbündeten. Um das Zögern der Regierung zu verstehen, sind zwei Informationen wichtig: Erstens wächst die Bevölkerung gemäss Prognosen im nördlichen Teil Indiens schneller als in den Südstaaten. Und zweitens ist Modis Partei, die Bharatiya Janata Party (BJP), genau in diesen Gebieten stark.
Indem die Regierung die Volkszählung mutmasslich bis nach 2026 hinauszögert, stärkt sie ihre Wahlchancen für 2029. Indien hat seit April das Prädikat, mit 1,42 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Welt zu sein. Es hat China überholt. Die Zahl stützt sich nicht etwa auf Angaben des indischen Innenministeriums – sondern auf Schätzungen der Uno.