Einst war Grossbritannien bei der Entwicklung von Kohlekraftwerken führend. Nun hat sich das Land innert weniger Jahre vom Kohlestrom verabschiedet – dank geschickter Politik und marktwirtschaftlichen Instrumenten.
Der 30. September 2024 wird den meisten Britinnen und Briten kaum in Erinnerung bleiben. Und doch markiert das Datum für Grossbritannien das Ende einer langen Ära: An diesem Tag produzierte die Ratcliffe-on-Soar Power Station in der nordenglischen Region Nottinghamshire letztmals Strom, bevor das letzte noch operierende Kohlekraftwerk im Land seinen Betrieb endgültig einstellte.
Das imposante Werk mit seinen riesigen Kesselhäusern und Kaminen war seit 1968 ununterbrochen am Netz gewesen. Es hatte eine Kapazität von 2o00 Megawatt und produzierte Strom für rund 2 Millionen Haushalte.
Laut der Betreiberfirma Uniper hat das Kraftwerk im Lauf der Jahrzehnte genug Energie produziert, um 21 Billionen Tassen Tee zu kochen, was ungefähr einer Milliarde Tassen pro Tag gleichkommt. Seit dem 1. Oktober kommt Grossbritannien nun aber gänzlich ohne in Kohlekraftwerken produzierte Elektrizität aus – zum ersten Mal seit 150 Jahren.
Briten bauten erstes Kohlekraftwerk
Der britische Kohleausstieg ist klimapolitisch bedeutsam. Die Verbrennung von Kohle gilt als schmutzigste Form der Energiegewinnung, der CO2-Ausstoss von Kohlekraftwerken ist fast doppelt so hoch wie jener der ebenfalls emissionsreichen Gaskraftwerke.
In diesem Frühjahr hatten die Umweltminister der Gruppe der sieben führenden Industrienationen (G-7) den Kohleausstieg bis 2035 beschlossen. Grossbritannien avanciert nun zum ersten G-7-Land, das diesen Beschluss in die Tat umsetzt.
Während Kohlestrom in Frankreich, Italien und Kanada weniger als 6 Prozent im jeweiligen Strom-Mix ausmacht, werden in den USA 16 Prozent der Elektrizität mit der Verbrennung von Kohle gewonnen. In Deutschland und Japan sind es noch immer 27 beziehungsweise 32 Prozent.
Laut einer Zusammenstellung der Denkfabrik Ember haben inzwischen 14 der 38 Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den Kohleausstieg geschafft. Grossbritannien ist in diesem Kreis die bisher grösste Volkswirtschaft.
Der britische Kohleausstieg hat auch eine grosse Symbolkraft. Denn das Land spielte bei der Entwicklung der Energiegewinnung aus Kohle eine Pionierrolle. 1882 nahm in London das weltweit erste Kohlekraftwerk seinen Betrieb auf. Das Konzept dahinter: Durch die Verbrennung wird Wasserdampf erzeugt, der eine Dampfturbine antreibt. Es war der Anfang eines Booms: Die stillgelegten Kraftwerke prägen das Stadtbild Londons bis heute und dienen als Kultur- oder Vergnügungszentren wie die Tate Modern oder die Battersea Power Station am südlichen Themseufer.
Die Briten führten die Technologie auch in ihrem weltumspannenden Netz von Kolonien ein. Die Kohle setzte sich auf breiter Front durch, ist bis heute der global wichtigste Energieträger zur Stromproduktion und trug daher massgeblich zum Anstieg der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre bei.
Grossbritannien steigt in rasantem Tempo aus der Kohle aus
Im Jahr 1990 war die Kohle in Grossbritannien noch für rund 67 Prozent des britischen Strommix verantwortlich. Dann aber folgte ein ebenso steiler wie bemerkenswerter Rückgang. Das ist auch an der Entwicklung des Kohleverbrauchs zu erkennen. 2024 glückte der vollständige Ausstieg.
Warum ist Grossbritannien die Abkehr von Kohle besser und schneller gelungen als vergleichbaren Volkswirtschaften? Und welche Lehren können andere Länder aus den britischen Erfahrungen ziehen?
Beim britischen Kohleausstieg lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In den 1980er Jahren spielte die konservative Premierministerin Margaret Thatcher eine wichtige Rolle. Thatcher glaubte bereits an den Klimawandel, als das Thema noch auf keiner politischen Agenda stand. Den Kohleausstieg trieb sie aber nicht aus klimapolitischen Gründen voran, sondern aus wirtschaftlichen und politischen: Sie brach die Macht der Gewerkschaften und schloss unrentable Kohleminen. Damit neutralisierte Thatcher eine mächtige Industrie, die mit der Verbrennung von Kohle ihr Geld verdiente.
In den letzten zwei Jahrzehnten war der schrittweise Kohleausstieg die Folge von gezielten klimapolitischen Massnahmen. 2008 war Grossbritannien das weltweit erste Land, das ein rechtlich verbindliches Ziel zur Reduktion der CO2-Emissionen beschloss. Das von der damaligen Labour-Regierung vorgeschlagene Gesetz stiess auf überparteiliche Zustimmung und wurde vom Unterhaus mit bloss drei Gegenstimmen gutgeheissen.
Als 2010 David Cameron zum Premierminister avancierte, nahm seine konservativ-liberale Koalitionsregierung die geschwächte und schmutzige Kohleindustrie ins Visier, um die Klimaziele durchzusetzen. 2013 setzte die Regierung eine CO2-Steuer in Kraft: Diese traf die emissionsreichen Kohlekraftwerke doppelt so stark wie Gaskraftwerke.
Die Folge: Viele Kohlekraftwerke wurden unrentabel und produzierten nur noch bei Mangellagen Elektrizität. Der Anteil der Kohle am britischen Strommix sank innert sechs Jahren von rund 40 auf 2 Prozent, während Erdgas und Windkraft an die Stelle der Kohle traten.
Die britische Steuer wurde als Ergänzung zur EU-Preisbelastung für CO2 eingeführt. Zunächst betrug sie knapp 5 Pfund pro Tonne CO2, 2018 wurde sie auf 18 Pfund pro Tonne CO2 erhöht. Das geschickt umgesetzte marktwirtschaftliche Instrument verfehlte seine Wirkung nicht. Forscher des University College London haben berechnet, dass die CO2-Steuer den Verbrauch von Kohlestrom um 93 Prozent gesenkt hat.
Zudem erliess die Regierung neue Vorschriften zur Limitierung der Luftverschmutzung von Elektrizitätswerken, die bei den gealterten Kohlekraftwerken teure Renovationen nötig gemacht hätten. Schliesslich begrenzte die Regierung auch den zulässigen CO2-Ausstoss für neu gebaute Kraftwerke, womit sie neuen Investitionen in Kohlekraftwerke die wirtschaftliche Grundlage entzog.
Der Erlass verbindlicher Klimaziele und die effektive Umsetzung des Carbon Pricing waren laut der Denkfabrik Ember die wichtigsten Erfolgsfaktoren für den britischen Kohleausstieg. Daneben nennt die Denkfabrik aber etwa auch die staatlichen Garantien für die Entwickler von Windkraft-Parks. Oder Marktreformen, die Energiefirmen für Investitionen belohnten, die eine konstante und zuverlässige Bereitstellung von Strom garantierten.
Ist eine CO2-freie Stromversorgung bis 2030 möglich?
Nach dem Amtsantritt der Labour-Regierung von Keir Starmer im Juli steht in Grossbritannien klimapolitisch eine neue Phase an. Die Konservativen hatten ihre Ambitionen unter Rishi Sunak zuletzt etwas zurückgefahren und beispielsweise die Eröffnung einer neuen Kohlemine in Cumbria bewilligt. Doch Labour beschloss, das Projekt gegen eine Klage von Umweltschützern nicht mehr zu verteidigen, worauf es im September vor dem britischen High Court Schiffbruch erlitt.
Zudem strebt Labour bis 2030 eine gänzlich CO2-freie Stromversorgung an. Ersetzen will die Regierung die Gaskraftwerke durch eine Vervierfachung des Offshore-Windstroms, eine Verdoppelung des durch Windkraftwerke an Land produzierten Stroms sowie die Verdreifachung von Solarstrom. Ausserdem bekennt sich Labour zur Nutzung der Kernenergie.
Die sehr ambitionierten Pläne werfen allerdings kritische Fragen auf und führen zu Zielkonflikten: Das Stromnetz ist für die Energiewende nicht bereit. Und der grossflächige Bau neuer Windräder wird zu Beschwerden von Anwohnern und Landschaftsschützern führen.
Was soll aus dem riesigen Kohlekraftwerk in Ratcliffe-on-Soar werden? Die Stilllegung könnte zwei Jahre in Anspruch nehmen. Danach will die Betreiberfirma Uniper das Werk in eine Produktionsstätte von Wasserstoff-Kraftstoff umfunktionieren. Gemäss den kühnen Zukunftsplänen soll die Produktion mit erneuerbarem Strom im Elektrolyseverfahren und damit ohne Emission von Treibhausgasen hergestellt werden. Das Werk soll laut Uniper dereinst bis zu 8000 Angestellten Arbeit bieten. Das wären deutlich mehr als die 3000 Mitarbeiter, die Ratcliffe-on-Soar als Kohlekraftwerk zu seinen Spitzenzeiten beschäftigte.