Als Sozialist versuchte der österreichische Schriftsteller Jean Améry seinem Judentum zu entkommen. Als Überlebender von Auschwitz entlarvte er die linke Doppelmoral. Seine in den 1960er und 1970er Jahren geschriebenen Essays über Faschismus und Totalitarismus sind erschreckend aktuell geblieben.
Bis an sein Lebensende kränkte es Jean Améry, dass er für einen Roman, den er 1935 im Alter von 23 Jahren fertiggestellt hatte, niemals einen Verlag fand. Alle seine Widersprüche versuchte der Autor in dem strikt autobiografisch angelegten Werk auszuloten: seine Kämpfe mit sich und den ihm nahen Menschen, den philosophischen Lehren und politischen Versprechungen seiner Zeit, mit Österreich und dem Bürgertum, von dem er schaudernd meinte, dass es ins Stadium der politischen, sozialen, moralischen Selbstzerstörung übergegangen sei. Und mit dem Antisemitismus, der, in Österreich weitum populär, durch den aus dem «Dritten Reich» heranrollenden Nationalsozialismus zur tödlichen Gefahr wurde, auch für ihn, den getauften Abkömmling einer jüdischen Familie, der sich seiner jüdischen Herkunft gar nicht bewusst gewesen war.
1935 konnte «Die Schiffbrüchigen» in Österreich nicht erscheinen, weil Améry, wie er später schrieb, «als Sozialist . . . natürlich Persona non grata im klerikofaschistischen» System des sogenannten «Christlichen Ständestaates» war. An einen deutschen Verlag wiederum war gar nicht zu denken, «weil ich nicht dem Arierparagrafen entsprach». Aber auch als ihm, der die Folter erlitten, die Konzentrationslager überlebt hatte, das Typoskript 1950 durch einen wundersamen Zufall wieder in die Hände fiel, konnte er keinen Verlag bewegen, es zu publizieren. Dabei ist in dem juvenilen Roman voller Scharfsinn und Wut, ausufernder Gelehrsamkeit und sprachlichem Furor bereits der ganze Améry enthalten: vor allem in der selbstverletzenden Intensität, mit der er die Schwächen seines ideenreichen, unruhigen, todessüchtigen Helden ergründet und dabei ein grelles Selbstporträt entwirft.
Ein zum Atheisten gewordener Jude
Der arbeitslose Buchhändler Eugen Althager ist wie sein Schöpfer ein aus der Provinz in die Armut der Metropole gespülter Bürgersohn, ein katholisch erzogener, zum Atheisten gewordener Jude, «der nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu dieser Rasse bestand»; und der doch, angesichts der noch illegalen, aber bereits durch die Strassen von Wien stampfenden Nazis erkennt, dass er bald zu einem «Volk gehören musste», mit dem ihn nichts verband. Nichts, ausser dass andere ihn mit diesem «Volk» identifizieren und zu dem Juden machen werden, als der er sich niemals selbst identifiziert haben würde. Doch begreift er, dass das «Geschrei der deutschen Menge», die gegrölten Mordverheissungen auch ihm gelten, «denn diese Menge war es, die ihn ausstiess».
Wie ein junger Mann durch äusseren Zwang auf ein in seiner Familie längst nicht mehr praktiziertes, geradezu vergessenes Judentum zurückgedrängt wird, das legt diese erzählerische Studie eindringlich dar. Améry wird Erfahrungen und Erleidnisse, von denen er im Roman erzählt, in seinen Meisteressays dreissig Jahre später neu aufgreifen und anders, aber mit der gleichen Passion der Selbstanalyse erkunden. Althager demontiert in der Auseinandersetzung mit der Epoche seine eigene Persönlichkeit und das, was sie bisher im Innersten zusammenhielt, er räumt die lang gehütete Illusion ab, eine Heimat zu haben, die doch den Juden, die zu Ausgestossenen werden, gerade geraubt wird.
Noch 1937 wird der junge Autor mit dem österreichischen Allerweltsnamen Hans Mayer, den er erst 1955 anagrammatisch zum französischen Améry umformt, trotzdem bekräftigen: «Mich bringt niemand weg von hier.» Doch schon im Jahr darauf, als Österreich nach dem «Anschluss» zur Falle wurde, hat er ums Leben flüchten müssen, nichts wie weg, gleich, wohin. Erste, befristete Zuflucht findet er in Antwerpen, doch der belgische Staat wird, kaum dass die Wehrmacht einmarschiert, die Flüchtlinge flugs in den Süden Frankreichs deportieren. Dort landete Améry mit Abertausenden in dem berüchtigten Lager Gurs, aus dem er gerade noch rechtzeitig entwich, ehe das kollaborierende Vichy-Regime die Flüchtlinge den Deutschen zur Vernichtung in den Konzentrationslagern auslieferte.
Die Flucht führte Améry aus dem Süden Frankreichs ausgerechnet zurück nach Belgien, ins besetzte Brüssel. Er suchte Anschluss an eine Gruppe von Widerständlern, für die er Flugblätter verfasste und unter deutsche Soldaten brachte, die sich davon aber nicht zur Desertion veranlasst sahen, sondern zur Denunziation. Die Gruppe wurde ausgehoben und Améry ins berüchtigte Fort Breendonk gebracht, die Folterzentrale der SS und der Gestapo.
Wie gemeisselt
Dort widerfuhr ihm, was ihn fürs Leben zeichnete, «die Tortur». So ist das erste Kapitel jenes Buches betitelt, das ihm 1966 eine überwältigende Resonanz bescherte, der kompakte, in Stil und Sprache wie gemeisselte Band «Jenseits von Schuld und Sühne», den der Untertitel als «Bewältigungsversuche eines Überwältigten» auswies.
Über Nacht wird aus dem wenig beachteten Journalisten ein umworbener Essayist; hatte er sich ab 1945, als er aus Auschwitz nach Brüssel zurückgekehrt war, in die Fron des gehetzten Tagesschreibers begeben, der Woche für Woche drei, vier Artikel quer über den deutschen Sprachraum veröffentlichte, rissen sich nun die grossen Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkstationen, die Verlage und Würdenträger um ihn. Er wird der Versuchung nicht widerstehen und sich jahrelang auf die von ihm ironisch so genannten «Sängerfahrten durch Deutschland» begeben, auf anstrengende Lese- und Vortragstouren, diese «Handelsreisen des Geistes».
Rastlos bis zum körperlichen Kollaps macht sich der 55-Jährige aber auch daran, alles, was er sich in seinem Leben geistig erarbeitet hat, noch einmal zu durchdenken und in literarische Studien, politische Kommentare, philosophische Versuche, aufsehenerregende Essaybände zu fassen. Nicht mehr als zwölf Jahre bleiben ihm, jene Bücher zu schreiben, die bis heute von ihm als eigenständigem wie eigensinnigem Denker und glänzendem literarischem Stilisten zeugen, etwa «Unmeisterliche Wanderjahre», «Über das Altern», die postum erschienenen «Örtlichkeiten». Zu diesen Büchern gehört auch «Hand an sich legen», in dem er zwei Jahre vor seinem Suizid in einem Salzburger Nobelhotel am 17. Oktober 1978 den Freitod als «Zurücknahme aller Lebenslügen» beschrieb und rechtfertigte.
«Jenseits von Schuld und Sühne» versammelt fünf Traktate, die sich zu einer «Phänomenologie der Opfer-Existenz» fügen. Am Anfang steht eine Frage, die für Améry zur quälenden Selbstbefragung wird, was nämlich die Condition humaine des Intellektuellen in der Welt der Konzentrationslager war.
Lapidar konstatiert er, dass es Menschen, die über eine religiöse oder politische Glaubensgewissheit verfügten, oftmals gelang, sich ihren Glauben auch in der Dehumanisierung des Konzentrationslagers zu bewahren. Der Intellektuelle hingegen, dem der Zweifel zum geistigen Rüstzeug gehört, konnte sich angesichts der vollständigen Destruktion dessen, was Kultur je bedeutet hatte, an keine Zeugnisse, Vorbilder der Tradition klammern, um sich seine geistige Sicherheit, ein unzerstörbares Bild von der Welt und der Entwicklung der Menschheit zu bewahren. «Es führt keine Brücke vom Tod in Auschwitz zum Tod in Venedig», vom Ort, an dem aus dem Einzelnen eine Nummer wurde, zu Thomas Manns berühmter Novelle, in der das unverwechselbare Individuum seinen ihm eigenen Tod in den Kulissen abendländischer Kultur stirbt.
Verstörend aktuell
Améry berichtet, dass sich Universitätsprofessoren und Gelehrte im Konzentrationslager verängstigt als «Lehrer» auszugeben pflegten, Rechtsanwälte degradierten sich selbst zu Hilfsbuchhaltern, Journalisten zu Schriftsetzern, «um nicht die berserkerische Wut des SS-Mannes oder Kapos herauszufordern».
Es wäre ein sträflicher Kurzschluss, die Herrschaft des Nationalsozialismus mit den autoritären Bewegungen von heute in eins zu setzen; und doch ist Amérys Beobachtung – wie so vieles, was er präzise in seiner Zeit und für diese beschrieb – geradezu verstörend aktuell. Professoren, Publizisten, Wissenschafter, Künstler wurden von den Propagandisten der völkischen Zwangsordnung als arrogante Angehörige der Elite geächtet und den Prüglern, den Totschlägern zur Verfügung übergeben. Die Lautsprecher des Populismus von heute pflegen notorisch ihre Verachtung wissenschaftlichen Denkens und rationaler Argumentation kundzutun, um erfolgreich wider reale und imaginierte Eliten zu hetzen.
Mit «Jenseits von Schuld und Sühne», das eine epochale Auseinandersetzung mit der «Tortur», der Folter, enthält, findet Jean Améry endlich jenes grosse Publikum, das er stets hatte erreichen wollen. Aber er kann sich des Zuspruchs nicht lange erfreuen. Im Vorwort von 1966 wandte er sich noch an jene Deutschen, die mit den Schandtaten des «Dritten Reiches» nicht mehr behelligt werden mochten. Es endete mit der zagen Hoffnung, «es sei diese Arbeit zu einem guten Ende gebracht worden: dann könnte sie alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen.»
Zehn Jahre später schlägt er im Vorwort zur Neuausgabe des Buches einen anderen Ton an. Empörung, ja Verzweiflung klingt auf, wenn er sich nicht mehr an die Wohlstandsdeutschen von 1966 wendet, die von nichts mehr wissen wollen, sondern an die aufbegehrenden Studenten, die bereits alles besser zu wissen vermeinen. Sie wähnten sich im Besitz der richtigen Faschismustheorie, da brauchte ihnen niemand, der im Konzentrationslager war, zu erklären, was Faschismus bedeute.
«Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als 1966 meine Schrift in erster Auflage erschien und ich als Gegner jene hatte, die meine natürlichen sind: die Nazis, die alten und neuen, die Irrationalisten und Faschisten, die reaktionäre Brut, die 1939 die Welt in den Tod geführt hat.» Nein, jetzt habe er sich an «die linke Jugend» zu wenden: «Es reden diese jungen Leute mit allzu geschwindem Mund vom ‹Faschismus›. Und sie sehen nicht ein, dass sie da über die Realität nur Raster schlecht durchdachter Ideologien legen . . .»
Améry vermerkt in diesem Vorwort – und in etlichen ab 1969 veröffentlichten Texten –, dass der Begriff des Faschismus, wie ihn sich die linken Studenten in Seminaren angeeignet haben, ganz ohne die Anschauung des realen Faschismus auskommt. Das Zeugnis der Überlebenden gilt für nichts, es wird nicht gehört, ja in selbstzufriedener Unwissenheit nicht einmal gesucht.
Die debattierenden, demonstrierenden Studenten geisseln notorisch die Bundesrepublik Deutschland, an der Améry genug zu kritisieren hatte, als faschistischen Staat, und davon lassen sie sich von niemandem abbringen, der aus eigener Erfahrung an malträtiertem Leib und aus versehrter Seele weiss, was Menschen angetan wurde, als der Staat tatsächlich ein faschistischer war. So sieht sich Améry vor die deprimierende Aufgabe gestellt, «dass ich mich heute wider meine natürlichen Freunde, die jungen Frauen und Männer der Linken, zu erheben habe», die schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen, «was an aufklärerischem Erbe ihnen zu Gebote» steht.
Verleugnung und Vergessen
Was er als Erstes an seinen natürlichen Freunden zu kritisieren hat, ist also ihr Desinteresse an der realen Geschichte. Mit «Jenseits von Schuld und Sühne» wollte er gerade zeigen, «was wirklicher Faschismus und singulärer Nazismus waren» (Kursivschreibung von Améry), und damit wohl auch verhüten, dass aus «Faschismus» ein Allerweltswort werde, dessen sich – wie das mittlerweile geschieht – jeder für seine eigenen Zwecke bedienen kann.
Die geschichtsvergessene, geschichtsverleugnende Aneignung von Begriffen zeigt längst auf sprachpolitisch kuriose wie widerwärtige Weise ihr gefährliches Potenzial. Hat nicht Russland, das faschistische staatliche Strukturen ausgeprägt und faschistische Haltungen gesellschaftlich normiert hat, seinen Angriff auf die Ukraine just damit begründet, es habe die historische Aufgabe, dort den «Nazismus» zu bekämpfen? Ja, überall, nur dort nicht, wo es angebracht wäre: im eigenen Land! Solcher frei benutzbarer «Antifaschismus» taugt als beliebiges sprachliches Vehikel dazu, sogar Angriffskriege vom Zaun zu brechen und Kriegsverbrechen als Akte humanitärer Notwehr gegen – ja gegen den «Nazismus» auszugeben.
Mit kühler Verzweiflung stellt Améry fest, dass sich die Studenten, deren Revolte ihn anfänglich begeisterte, nicht mit der sozialen und politischen Realität auseinandersetzen, sondern dieser mit theoretischen Abstraktionen beikommen möchten. Da fällt es ihnen leicht, allenthalben neue Faschisten zu entdecken, unter denen sie flugs auf die «Zionisten» als besonders verdammenswerte Spezies kommen, die es mit bevorzugter Dringlichkeit zu bekämpfen gelte.
In seinem Essay «Der ehrbare Antisemitismus» schreibt er 1969, dass der Antisemitismus «im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke» enthalten sei. Der neue Antisemitismus will freilich nicht als solcher gelten, damals, um 1970, sucht er wie der heutige Antisemitismus nach ehrbaren Gründen, die ihn rechtfertigen, und achtbaren Begriffen, die sein Wesen verschleiern. Der um seine Ehrbarkeit besorgte Antisemit «kann ordinär reden, dann heisst das ‹Verbrecherstaat Israel›. Er kann es auf manierliche Art machen und vom ‹Brückenkopf des Imperialismus› sprechen . . . Der Antisemitismus hat es leicht allerwegen. Die emotionale Infrastruktur ist da.» Diese Infrastruktur, die den alten wie den neuen Antisemiten zur Verfügung steht, fördert etwas, das Améry als «Sünde wider den Geist» erscheint: «Die Allianz des antisemitischen Spiesser-Stammtisches mit den Barrikaden . . .»
Améry greift ein dem deutschen Sozialdemokraten August Bebel zugesprochenes, wohl aber vom österreichischen Liberalen Ferdinand Kronawetter in die Welt gesetztes Bonmot auf, wonach der Antisemitismus «einst als der Sozialismus des dummen Kerls» gegolten habe. 1969 aber drohen sich diesen nicht die dummen Kerle, sondern die linken Intellektuellen anzueignen: «Heute steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden . . .»
In Berlin und anderswo wurde gegen den Zionismus auf der Strasse mobilisiert, als wäre gerade er das letzte Hindernis auf dem Weg zur weltweiten Befreiung der Ausgebeuteten. «Schlag die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot», skandierten gutgelaunt die Demonstranten; der Generation ihrer Eltern und Grosseltern, denen sie ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus gerne und zu Recht vorhielten, lautete die nämliche Parole noch: «Juda, verrecke!»
Linke Verschwörungstheorien
Man muss sich vergegenwärtigen, welch krude Verschwörungstheorien Ende der sechziger Jahre im allerdings weit ausfransenden linken Milieu gewälzt wurden. Im Februar 1970 wurde in München ein Brandanschlag auf das Altenheim der jüdischen Gemeinde verübt, dem sieben Überlebende des Holocaust zum Opfer fielen. Im Unterschied zu einem früheren Anschlag in Berlin, dessen sich die Tupamaros West-Berlin rühmten, ist die Urheberschaft des Münchner Anschlags bis heute ungeklärt, allerdings haben die Tupamaros München sofort gewusst, wer dahinterstand: Es könnten nur Leute gewesen sein, die daran interessiert wären, «die Hetzjagd auf die Feinde des US-zionistischen Imperialismus zu eröffnen». Den Zionisten in ihrer bekannten Heimtücke war zuzutrauen, Juden zu ermorden, um politischen Profit für ihr imperialistisches Projekt einzufahren.
Natürlich waren um 1970 nicht alle, die sich der «neuen Linken» dogmatisch, aktivistisch oder schwärmerisch, unbekümmert verbunden fühlten, auch Antisemiten. Gleichwohl haben sich im linken Jargon antisemitische Bilder festgesetzt. Wie konnte es so weit kommen, dass gerade jene Jugend, auf die sich Amérys Hoffnungen bezogen, die «bildsame, wesenhaft generöse und nach Utopia strebende, also die linke», sich in ihrer Feindschaft gegen Israel denen annäherte, «die ihre Feinde sind so gut wie die meinen»?
Um so weit zu kommen, Israel das Existenzrecht abzusprechen, musste der Zionismus, der den jüdischen Staat als antikoloniale Befreiungsbewegung geschaffen hatte, zur Bewegung einer wesenhaft kolonialistischen Unterdrückung umgedeutet werden. War das einmal geschafft, brauchte man sich für die Gründungsjahre Israels, für die realen Pläne einer Koexistenz, die von den arabischen Despoten und den in Palästina lebenden Arabern allesamt abgelehnt wurden, erst gar nicht zu interessieren: Die mit antiimperialistischen Phrasen überfütterte Unkenntnis der realen Geschichte genügte.
Der Zionist wurde als Feind im weltweiten Befreiungskampf enttarnt, und Zionisten waren erstens alle jüdischen Bewohner Israels und zweitens alle weit verstreut über die Kontinente lebenden Juden und Jüdinnen, denen die Existenz Israels ein existenzielles Anliegen war. Daher ist nicht nur jeder israelische Soldat ein Feind, sondern auch jeder Jude irgendwo auf der weiten Welt, vom Kind zum Greis, ein israelischer Soldat, den zu beseitigen der gerechten Sache dient.
Jean Améry steht für Israel ein, weil die Juden überall, «geht es aufs Brechen mehr als aufs Biegen», in der Gefahr stehen, als «Juden, Halbjuden, Vierteljuden, sogar als ‹jüdisch Versippte›» definiert, mit Israel identifiziert und für die israelische Politik haftbar gemacht zu werden. Wie er einst, von Antisemiten zum Juden erklärt, seine ihm fremde jüdische Identität als Akt der Revolte angenommen hat, so hält er es nun, was den Staat Israel und den Zionismus angeht, mit einer ihm zunächst auferlegten, aber dann für immer akzeptierten «Schicksalstreue, der ich mich ergebe».
Die Linke, von der Améry sprach und an die er sich wandte, ist heute ein historisches Phänomen. Sie hatte mit den Palästinensern der PLO sympathisiert, weil sie diese unbedingt für eine antiimperialistische Befreiungsbewegung halten wollte, die nur leider von den Zionisten gezwungen wurde, zivile Flugzeuge in die Luft zu jagen. Vermutlich haben die meisten, die sich damals dieser Linken zugehörig fühlten, am 7. Oktober 2023 nicht zu dem intellektuellen Mob gehört, den die Ermordung und Entführung von Juden begeisterte oder der behauptete, dass es sich beim Massaker der Hamas um einen überfälligen wie verdienten Gegenschlag handelte.
Woker Hass auf Israel
Heute ist eine andere Generation weltweit damit beschäftigt, den Staat Israel zu delegitimieren und «from the river to the sea» seine Auslöschung zu verlangen, nein, zu betreiben. Ihre Bewegung wird gemeinhin als «woke» bezeichnet und sieht sich in der Tradition der politischen Linken, wiewohl sie mit der Zwangsvorstellung von unaufhebbaren ethnischen, rassischen, sexuellen Identitäten früher eher als rechts wahrgenommen worden wäre.
Der woke Hass auf Israel führte unverweilt zu Angriffen, Attacken, Überfällen auf jüdische Institutionen und Menschen in aller Welt, die, um in der neuen Terminologie zu sprechen, als Juden «gelesen» werden. Dieser Hass ist so blindwütig, dass sich Studierende, Akademiker, Künstler, selbst Verfechterinnen der LGBTQ-Bewegung mit einer islamistischen Terrororganisation solidarisieren, deren Ziel kein palästinensisches Staatswesen, sondern erklärtermassen der überregionale, übernationale Gottesstaat ist, auf dessen Territorium kein freiheitsliebender Mensch, sei er Jude oder nicht, unbehelligt nach seiner Fasson würde leben können.
Die Linke der sechziger und siebziger Jahre hat Améry, der sie zunächst mit seiner rhetorischen Begabung, im Hörsaal wie im Fernsehstudio gleichsam öffentlich zu philosophieren, beeindruckt hatte, schliesslich als verstockten Freund der Zionisten abgetan. Die woke Linke möchte sich seiner hingegen bemächtigen. Améry hat das Recht der Palästinenser auf ihr eigenes Staatswesen ausdrücklich anerkannt, die israelische Besatzungspolitik vielfach harsch kritisiert und einmal, als von Folterungen in israelischen Gefängnissen berichtet wurde, aufgewühlt von den «Grenzen der Solidarität» gesprochen. Der indische Autor Pankaj Mishra hat in der einflussreichen «London Review of Books» im Frühjahr 2024 einen begeistert aufgenommenen Essay veröffentlicht. In diesem behauptet er, Améry habe Israel als zionistischer Kolonialmacht zuletzt die Treue aufgekündigt, einer Kolonialmacht, die ungeheure Verbrechen verübe, um die weisse Suprematie bis heute aufrechtzuerhalten.
Die vor fünfzig und mehr Jahren geschriebenen Essays von Jean Améry sind erschreckend aktuell geblieben. Wer sich ihrer geistigen Strahlkraft entziehen will, kommt nicht mehr damit aus, sie zu ignorieren, er muss sich schon daranmachen, sie zu verfälschen.
Karl-Markus Gauss lebt als Schriftsteller, Publizist und Kritiker in Salzburg.