Der hinreissende Ballettabend «Timekeepers» beschwört am Opernhaus Zürich den revolutionären Geist der 1920er Jahre. Auch in der neu aufgestellten Zürcher Kompanie ist diese Aufbruchsstimmung zu spüren.
Der Geist der 1920er Jahre brachte in fast allen Künsten eine einzigartige Aufbruchstimmung hervor. Am Opernhaus Zürich will der dreiteilige Ballettabend «Timekeepers» diesen Geist nun im Tanz neu vermessen. Wie in einer Zeitkapsel kommen drei zwischen 1923 und 1926 uraufgeführte Werke der musikalischen Avantgarde auf die Bühne. Das berühmteste Stück des Abends ist das Ballett «Les noces» von Igor Strawinsky. Es wurde am 13. Juni 1923 von den Ballets russes in Paris uraufgeführt und ist nun am Opernhaus Zürich als Rekonstruktion in der Uraufführungsversion zu sehen.
«Les noces» gilt zu Recht als ein Schlüsselwerk des modernen Tanzes. Als Handlungsgerüst dient ein bäuerliches Hochzeitsritual, und das wirkt ziemlich schwermütig: Eine Braut soll sich einer arrangierten Hochzeit – und damit der Familie ihres Zukünftigen – unterwerfen. Zwar tauchen Ballerinen in Spitzenschuhen auf, aber die Choreografin Bronislawa Nijinska hat hier das Korsett des klassischen Balletts in folgenreicher Weise aufgesprengt.
Ein Stück mit grosser Aura
Die Choreografie von Nijinska unterstreicht die Kantigkeit von Strawinskys Musik, etwa durch eckige Bewegungen und eine kühle konstruktivistische Ästhetik. Nijinska, die lange Zeit übersehene jüngere Schwester des Jahrhundert-Tänzers Vaclav Nijinsky, beschönigt oder glättet das Geschehen in keinem Moment. Die Braut wird unter dem Reigen und Chorgesang der Festgesellschaft wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt. Frauen und Männer tanzen getrennt in Linien, Gruppen und geometrischen Mustern. «Diese Hochzeit ist das Trauerlied der traurigsten Menschheit», resümierte ein Rezensent der Uraufführung.
Die Musik erklingt in der sperrigen Originalbesetzung für Chor, vier Klaviere und Schlagzeugensemble. Geradezu brüsk werden die farbigen Akkorde und stampfenden Rhythmen in den Tanz übersetzt. Zwar deutet die Szenerie ein Haus an, doch die Inszenierung verzichtet – bis auf die traditionellen Kostüme – weitgehend auf folkloristisches Beiwerk. Symbolhaft steht am Beginn die Szene mit dem langen Zopf, den die Tänzerinnen mit ernsten Gesichtern in den Händen halten und wie eine Zündschnur sorgsam um den Hals der Braut drapieren. Die anschliessende Pyramide aus Frauenfiguren ist ein einprägsames Sinnbild für die zementierte Hierarchie der Gesellschaft.
«Les noces» gilt als Nijinskas Erfolgsstück. Nun kann man die Originalgestalt des Balletts, das man sonst nur von Fotos kennt, auf der Bühne sehen. 1966 wurde das Stück in London vom Royal Ballet unter der Leitung der damals 75 Jahre alten Choreografin wieder einstudiert und bei der Gelegenheit in moderner Tanznotation aufgezeichnet. Der Engländer Christopher Saunders, der in Zürich für die Rekonstruktion des Balletts zuständig ist, tanzte als junger Tänzer selbst in der Londoner Produktion, so dass die Rekonstruktion auch in dieser Hinsicht als authentisch gelten darf. Ein starkes Stück mit einer grossen Aura, das in der präzisen Umsetzung der Gruppentänze zu überzeugen vermag.
Funksteuerung für Torpedos
Am Beginn des Abends steht mit George Antheils «Ballet mécanique» ein weiteres Skandalstück der jungen Moderne. Die turbulente Uraufführung im Juni 1926 in Paris machte den amerikanischen Komponisten über Nacht zum «Bad Boy» der Musikszene. In seinem Werk sollten neben Schlaginstrumenten auch Flugzeugpropeller und Sirenen zum Einsatz kommen, ausserdem sechzehn mechanische Klaviere, die mit einem surrealen Film synchronisiert werden mussten – was sich technisch seinerzeit als schwierig erwies.
In Zürich begnügt man sich mit einer Version für einen Pianisten und ein Orchester aus Lautsprechern von Paul Lehrman. Der Antheil-Spezialist Guy Livingston sitzt auf der Bühne am Klavier. Die australische Choreografin Meryl Tankard verknüpft die überbordende Geräuschkulisse in ihrem Tanzstück «For Hedy» mit der Biografie der Hollywood-Diva Hedy Lamarr. Sie galt als die schönste Frau Hollywoods und als Urbild für Walt Disneys Schneewittchen; sie teilte aber mit George Antheil den Hang zum Experiment und wurde mit ihm zur Erfinderin einer Funksteuerung für Torpedos. Eine kühne gedankliche Konstruktion für ein Ballett, das entsprechend furios daherkommt, aber in der Verknüpfung der vielen Fäden etwas überambitioniert wirkt.
Geräuschvolle Raserei, stampfende Marschrhythmen, athletische Tänzer im Dauereinsatz: Wer die Tänzerin Shelby Williams als Hedy Lamarr im schwarzen Abendkleid neben ihren zuckenden Mittänzern beobachtet, lernt, was echter Glamour ist: die Ruhe im Auge des Orkans. Nichts scheint sie zu beeindrucken, wenn sie sich neben den ekstatisch in die Tasten greifenden Pianisten setzt und seelenruhig das Abendjäckchen mit den Pailletten überstreift. Williams tanzt als Hedy Lamarr charismatisch, und es ist anrührend, wenn wir diese makellose Ikone der Schönheit am Ende mit kahlem Kopf in einer von Gewehrsalven zerfetzten Klanglandschaft stehen sehen. Starke Bilder, die lange vor dem inneren Auge bleiben.
Flügelschlag von Kolibris
Die eigentliche Überraschung des Abends aber ist die Uraufführung «Rhapsodies» des südafrikanischen Tanzschöpfers Mthuthuzeli November. Der Shooting-Star der internationalen Ballettszene wuchs in Kapstadt auf, bevor er zum in London ansässigen Ballet Black wechselte. Sein in Zürich uraufgeführtes Stück «Rhapsodies» vertanzt die «Rhapsody in Blue» von George Gershwin auf hinreissende Art und Weise.
Die Pianisten Robert Kolinsky und Tomas Dratva meisseln Gershwins Melodien in die Tasten ihrer zwei Klaviere, während die Tänzerinnen in Spitzenschuhen die jazzigen Rhythmen im Staccato in den Boden nageln, was einen grandiosen Effekt erzeugt. Ihre flirrenden Handbewegungen sehen dazu aus wie der Flügelschlag von Kolibris. Hier stimmt einfach alles – der mitreissende Schwung der Ensembleszenen, die gefühlvoll getanzten Duos.
Novembers «Rhapsodies» zaubern schon vor der Pause ein Lächeln auf die Gesichter. Das Ensemble zeigt sich von seiner temperamentvollen Seite und agiert mit grossartiger Präzision. Kein Zweifel: Das Ballett Zürich ist unter seiner neuen Chefin Cathy Marston erkennbar weiblicher und auch vielseitiger geworden, aber es ist vor allem zu einer hinreissend schönen Kompanie zusammengewachsen, die an diesem Abend Fabelhaftes leistet.