Als Kind entkam er den Nazis, er überlebte in der Schweiz und hat dem Kunsthaus das beliebteste Kunstwerk der Sammlung geschenkt: Werner Merzbacher ist 96-jährig gestorben.
Als Elfjähriger kam er in die Schweiz. Das war 1939, seine Eltern hatten dafür gesorgt, dass Werner Merzbacher zusammen mit seinem Bruder Deutschland verlassen konnte. Mit einem Kindertransport. Er durfte die öffentliche Schule nicht mehr besuchen, seit der Reichspogromnacht 1938 war das Leben für Juden in Deutschland immer schwieriger geworden. Merzbachers Vater hatte seine Arztpraxis in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg aufgeben müssen und das Haus verkauft. Er war sogar ein paar Monate im Gefängnis gesessen – weil er sich gegen eine antisemitische Pöbelei gewehrt hatte.
Werner Merzbacher entkam den Nazis. In Zürich wurde er aufgenommen, zuerst von einer Familie, dann von der Gemeindeschwester von Witikon. Er habe sich in der Schweiz von Anfang an wohlgefühlt, erzählte Merzbacher vor ein paar Jahren in einem Gespräch. Er habe das Glück gehabt, ein Stipendium zu bekommen, und konnte so die Handelsschule besuchen. Auf das Gymnasium durfte er nicht. Dafür hätten die Eltern in Zürich Steuern zahlen müssen.
Aber er war gerettet. Seine Eltern kamen nicht mehr aus Deutschland weg. Die Papiere für die Ausreise in die USA kamen ein paar Tage zu spät an. Julius und Hilde Merzbacher waren bereits deportiert worden, zusammen mit der Grossmutter und mehr als sechstausend anderen Juden. Zunächst in ein Lager in den Pyrenäen. Dann nach Majdanek. Dort wurden sie 1943 ermordet. Ende 1942 hatte Merzbachers Bruder die letzte Postkarte von den Eltern bekommen: «Mach Dir keine Sorgen», schrieb die Mutter, «wir sind mit vielen anderen. Ich hoffe, dass alles besser wird.» Und der Vater hatte dazugeschrieben: «Lieber Rolf, werde ein guter Mann.»
Staatenlos in die USA
Am Samstag ist Werner Merzbacher 96-jährig gestorben. Vergessen konnte er nie. Was er erlebt hatte, war ihm stets gegenwärtig. Wenn er davon erzählte, war Trauer zu spüren, aber keine Verbitterung. Vor allem war von Dankbarkeit die Rede. «Ich habe immer Glück gehabt in meinem Leben», sagte er. Das klang sonderbar angesichts des Leids, das er erfahren hatte. Aber es war ernst gemeint. Merzbacher war Optimist, ein herzlicher Mensch, bis ins hohe Alter hellwach und interessiert.
Er erzählte gern von früher. Wie er, um ein bisschen Geld zu verdienen, während des Kriegs im Zürcher Schauspielhaus arbeitete. Als Statist und als Hilfskraft. Wie er in einer Konditorei aushalf und mit anderen Kindern Maikäfer sammelte. Damals herrschte eine Maikäferplage, die Schädlinge frassen alles kahl, was sie erreichen konnten. Für jedes Kilo Käfer gab es ein bisschen Geld.
Filmregisseur wollte er werden. Nur, als Staatenloser konnte er sich nach dem Abschluss der Mittelschule nicht an einer Universität einschreiben. Die Schweizer Staatsbürgerschaft wurde ihm verweigert. Sein Bruder war psychisch krank und lebte in einer Klinik im Thurgau. Damals ging man davon aus, dass psychische Krankheiten vererbt würden. Der Polizeidirektor des Kantons Thurgau schrieb deshalb nach Zürich, man solle Merzbacher nicht einbürgern. Denn es bestehe die Gefahr, dass er, wie sein Bruder, psychisch krank und armengenössig werde.
Pelze in Alaska
Nach dem Krieg wanderte Merzbacher aus, in die USA. Dort leistete er Militärdienst, weil er amerikanischer Staatsbürger werden wollte, lernte seine spätere Frau Gabriela kennen – und fand eine wildfremde Frau, die für ihn gebürgt hätte, falls er seinen Lebensunterhalt nicht hätte bestreiten können. Auch da habe er Glück gehabt, erzählte Merzbacher später: Weil er an der Zürcher Kantonsschule englische Stenografie gelernt hatte, wurde er einem Offizier zugeteilt, der Jurist war und einen Gerichtsberichterstatter suchte. «Ich konnte zwar noch nicht gut Englisch, aber stenografieren konnte ich.»
So kam er nach Fairbanks in Alaska. Für ein Jahr. Er stieg in den Pelzhandel ein und fand ganz nebenbei heraus, dass er ein Faible für Finanz- und Devisengeschäfte hatte. Nach kurzem machte er sich im Pelzgeschäft selbständig und hatte Erfolg. Er verdiente Geld mit Finanzgeschäften. Und entdeckte seine Liebe für Kunst. Sozialkritische Maler interessierten ihn damals: «Meine Frau und ich sind nach Mexiko gereist, um Bilder von solchen Künstlern zu kaufen», erzählte er später: «Ich habe sie noch, aber im Keller.»
Die Geschäfte liefen gut, sehr gut sogar. Allerdings waren es weniger die Pelze als vielmehr die Finanzgeschäfte, die ihm das Geld einbrachten, mit dem er begann, Kunst zu sammeln. Bernhard Mayer, der Grossvater seiner Frau, hatte eine Sammlung, die ihn beeindruckte: Cézanne, van Gogh, Matisse. Merzbacher wünschte sich, etwas Ähnliches aufzubauen. Aber vorerst blieb es beim Wunsch: «Mit dem Sammeln beginnen konnte ich erst später, als ich beruflich erfolgreich geworden war.»
Das Wichtigste im Leben
In den 1960er Jahren wurde Merzbacher von seinem Schwiegervater, der in der Schweiz lebte, gefragt, ob er in dessen Pelzhandelsgeschäft einsteigen wolle. Er sagte zu und zog mit seiner Frau und den drei Kindern nach Zürich. Da begann er «richtig» zu sammeln, wie er später sagte. Impressionisten, Sisley, Monet. In den siebziger Jahren besuchten er und seine Frau eine Fauvismus-Ausstellung im Museum of Modern Art in New York. Das war ein Schlüsselerlebnis.
«Da habe ich gespürt, dass die Farbe für mich das Wichtigste ist. Das, was mich fasziniert.» Die Sammlung, die er im Lauf der Jahre aufbaute, ist davon geprägt. Die Bilder von Kandinsky, Derain, Picasso, Matisse, Modigliani, Klee, Jawlensky und Beckmann: Es sind Farbfeuerwerke. Man spürt dahinter einen Sammler, der sich nicht an kunsthistorischen Kriterien orientierte, sondern intuitiv kaufte, was ihn bewegte. Und nur das. Ein Kunsthändler, der ihn manchmal beriet, prägte den Begriff «Merzbacher-Bilder».
Die Sammlung wuchs zur Kollektion von internationalem Format. Werner Merzbacher plante schon lange, sie in der Schweiz öffentlich zu zeigen. «Dass es mich gibt», sagte er vor drei Jahren im Gespräch, «verdanke ich der Hilfe, die ich in der Schweiz erfahren habe. Das war und ist das Entscheidende in meinem Leben.» Dafür war er dankbar, und seine Dankbarkeit wollte er zeigen.
Noch mehr Farbe
Mit der Eröffnung des Erweiterungsbaus im Herbst 2021 hat sich der Wunsch erfüllt. Die Sammlung Merzbacher ist als Dauerleihgabe im Kunsthaus zu sehen und ist ein Publikumsmagnet. Bis in die letzten Monate führte der über neunzigjährige Sammler selbst Besucher durch die Sammlung, auch Schulklassen. Er sorgte dafür, dass am Eingang zu seiner Sammlung immer frische Blumen stehen. Werner Merzbacher liebte Blumen. Noch im hohen Alter fuhr er am frühen Morgen auf den Markt am Bürkliplatz in Zürich, um für seine Frau und sich Blumen zu kaufen.
Gern hätte er noch ein paar Bilder mehr gezeigt, sagte Merzbacher bei der Eröffnung. Und er fand einen Weg, noch mehr Farbe ins Museum zu bringen. Er schenkte dem Kunsthaus das Kunstwerk, das zum wohl beliebtesten der ganzen Sammlung geworden ist: Pipilotti Rists «Pixelwald». Tausende in allen Farben schimmernde LED-Lämpchen in einem dunklen, von sanfter Musik erfüllten Raum. Langsam, fast andächtig bewegen sich die Besucherinnen und Besucher zwischen ihnen hindurch. Sie sitzen oder liegen unter ihnen. Und schauen träumend dem Spiel der Farben zu.