Rund hundert Stücke wurden neu in den offiziellen Werkkatalog Mozarts aufgenommen. Was steckt hinter der Sehnsucht nach Funden bei den ganz grossen Komponisten?
Die 626 markiert eine Grenze – die griffige Zahl steht für den Übergang zwischen Leben und Tod. Denn seit gut anderthalb Jahrhunderten prangt sie wie in Stein gemeisselt als Ordnungsnummer über dem letzten Werk von Wolfgang Amadeus Mozart: dem Requiem von 1791, das er aufgrund seines frühen Todes mit 35 Jahren nicht mehr fertigstellen konnte. Allein die Geschichten um dieses Fragment füllen Bibliotheken, unter der 626 subsumieren sich all die berühmt gewordenen Erzählungen und Anekdoten von einem anonymen Auftraggeber, von dessen «grauem Boten», den die Romantik zum Todesengel stilisierte, von einer angeblichen Vergiftung des Komponisten und vieles mehr.
Die klassische Musik ist voll von solchen magischen Zahlen, hinter deren nüchtern-numerischer Fassade sich nicht selten ähnliche Geschichten verbergen, vor allem aber Schlüsselwerke für die Entwicklung der Musik. Die Erwähnung von Joseph Haydns «Opus 33» etwa lässt die Augen von Musikfreunden leuchten, umfasst es doch sechs «auf eine ganz neue, besondere Art» komponierte Streichquartette, die heute als Initialwerke der Wiener Hochklassik gelten. Ein vergleichbarer Nimbus umgibt die Zahl 111, sie ist sogar zu Ehren in der Weltliteratur gekommen: Es ist die Opusnummer von Beethovens letzter Klaviersonate, der Thomas Mann in seinem «Doktor Faustus» mithilfe Adornos eine bezwingende Analyse gewidmet hat.
Dabei ist der ganze Zahlenzauber nichts als Zufall. Viele Komponisten nummerierten ihre Werke nicht, wie Bach und Wagner, oder nur nachlässig; andere betrieben diese Form der kreativen Buchführung selektiv, indem sie vermeintlich weniger Gelungenes von der Zählung ausnahmen. Bei Beethoven gibt es deshalb neben den offiziellen 135 Opera noch gut doppelt so viele weitere Kompositionen, und nicht alle hält die Nachwelt für Nebenwerke. Dieses Durcheinander rief im ordnungsliebenden 19. Jahrhundert furchtlose Forscher auf den Plan, die Systematik ins Chaos bringen wollten. Schliesslich sollte kein einziges Werk der etablierten Genies durch den Rost der Geschichte fallen.
Noten und Mineralien
Der bekannteste unter den vielen Werkkatalogen, die bis heute wissenschaftlich kuratiert werden, ist das Köchel-Verzeichnis. Es hat seinen gern mal zu «Knöchel» verballhornten Namen von Ludwig Alois Friedrich Ritter von Köchel (1800–1877), der erstmals für Ordnung unter Mozarts Werken sorgte. Passenderweise war der Ritter nebenberuflich als Botaniker und Mineraliensammler tätig. Der gewundene Titel der Erstausgabe von 1862 umschreibt genau, worum es ging: «Chronologisch-thematisches Verzeichniss sämmtlicher Tonwerke Wolfgang Amade Mozart’s. Nebst Angabe der verloren gegangenen, angefangenen, übertragenen, zweifelhaften und unterschobenen Compositionen desselben».
Köchel war es auch, der dem Requiem die Nummer 626 verlieh. Dabei ist es geblieben, obwohl in den seither erschienenen acht Auflagen manche Änderungen bei früheren Werken vorgenommen wurden, die Erkenntnisse zur Chronologie von Mozarts Schaffen widerspiegeln sollten. Durchgesetzt hat sich das dadurch angerichtete Zahlenwirrwarr im Musikleben nie – viele Werke Mozarts, nicht nur das Requiem, scheinen regelrecht verwachsen mit ihrer ursprünglichen Köchel-Nummer. Dem trägt die jüngste Neuausgabe Rechnung, die nun, volle sechzig Jahre nach der letzten und als Ergebnis von achtzehn Jahren Forschung, Ende September publiziert wurde und fortan auch online einsehbar ist.
Sie verwirft die Idee der chronologischen Abfolge und behält die bekannte Nummerierung bei, aber Zahlenmystiker müssen trotzdem stark sein: Die 626 steht nicht länger für das Ende aller Mozart-Töne – es geht weiter, vorerst bis «KV 721», einem Lied mit dem vielversprechenden Titel «Prüfung des Küssens», der Notentext ist leider verschollen. Insgesamt 95 Werke hat die federführende Stiftung Mozarteum in Salzburg neu in den Katalog aufgenommen. Der umfasst in seiner gedruckten Version jetzt nicht weniger als 1392 Seiten, und der «ganze Mozart» wiegt – wie die begleitende Medienmitteilung stolz als «Fun-Fact» vermerkt – knapp drei Kilogramm. Mozart hätte dieser skurrile Nachweis seiner Lebensleistung sicher gefallen.
«Eine ganz kleine Nachtmusik»
Seither herrscht Aufregung in der Musikwelt. Sollte sich unter den neu aufgenommenen Werken nicht das eine oder andere Juwel entdecken lassen? Unbekannte Werke von einem der ganz grossen Komponisten – das findet sich schliesslich nicht alle Tage. Auch wenn etliche Einträge lediglich die Authentizität von Kompositionen bestätigen, die dem Genius schon länger zugeschrieben werden – ein paar echte Funde gibt es tatsächlich.
So etwa den ersten Konzertsatz Mozarts, der sich ohne Autorenangabe im «Nannerl-Notenbuch», dem Klavierheft seiner Schwester Maria Anna, fand und jetzt als «KV 636» die höheren Weihen erhielt. Vor allem aber eine «Serenate ex C», die binnen weniger Tage nach der Salzburger Uraufführung am 19. September zu einem Hit in der Mozart-Gemeinde avanciert ist. Sie geht seither buchstäblich um die Welt, schon jetzt finden sich zahllose Einspielungen und Bearbeitungen davon im Internet.
Das zauberhafte Jugendwerk aus den 1760er Jahren ist fraglos mehr als eine Fussnote für Vollständigkeitsgläubige. Es tauchte aus den Beständen der Leipziger Städtischen Bibliotheken auf, wo es vermutlich seit dem 19. Jahrhundert unerkannt schlummerte. Das suitenhafte Stück besteht aus sieben kurzen Sätzen mit einer Spieldauer von gut zwölf Minuten. Es ist klar dem frühklassischen Stil der Epoche verhaftet, zeigt aber bereits jenes rhetorische Denken in Kontrasten und einige unverkennbare melodische Wendungen, die Mozarts gesamtes Schaffen durchziehen. Und namentlich das Adagio, den fünften Satz, würde niemand für das Werk eines Teenagers halten.
Für Ulrich Leisinger, den wissenschaftlichen Leiter am Mozarteum und Redaktor des neuen Köchel-Verzeichnisses, füllt das Werk eine schmerzliche Lücke: «Aus einer Aufstellung von Leopold Mozart wissen wir von vielen kammermusikalischen Kompositionen aus der Jugendzeit, die leider allesamt verlorengegangen sind. Es sieht so aus, als ob sich in Leipzig durch eine Verkettung günstiger Umstände ein vollständiges Streichtrio erhalten hat.» Leisinger mutmasst, dass der seinerzeit vielleicht zehn oder dreizehn Jahre alte Wunderknabe Wolfgang das Stück als Geschenk zum Namenstag für seine Schwester geschrieben haben könnte.
Dem geliebten Nannerl verdankt das neue «KV 648» auf jeden Fall seinen ebenso lustigen wie anspielungsreichen Beinamen, unter dem es gerade populär wird: «Eine ganz kleine Nachtmusik». Die Geschichte dazu ist rasch erzählt. Im Jahr 1800 bot Maria Anna dem in Leipzig ansässigen Verlag Breitkopf & Härtel das Original oder die nun identifizierte Abschrift mit den merklich zurückhaltenden Worten an: «Auch habe ich eine ganz kleine Nachtmusik, bestehend in (Noten für) 2 Violin und Basso. Da es aber eine sehr simple Composition (ist), die er in sehr frühen Jahren gemacht hat, so getraute ich mir nicht, solche zu schicken, da sie mir zu unbedeutend schien.»
Mozart «zieht» noch immer
Für die Nachwelt passen indes die Wörter «Mozart» und «unbedeutend» kaum mehr zusammen. In Leipzig bildete sich nach einem Bericht der dortigen «Volkszeitung» eine «Hunderte Meter lange Menschenschlange um den Augustusplatz», weil dermassen viele Musikfreunde die ersten Aufführungen in und vor der Oper gegenüber dem Gewandhaus hören wollten. Mozart «zieht» offenkundig, auch noch bald zweieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod. Und die Assoziation mit einem der bekanntesten Werke der klassischen Musik, der späten G-Dur-Serenade KV 525 mit der authentischen Bezeichnung «Eine kleine Nachtmusik», dürfte das Ihrige beigetragen haben.
Dass die neue «Nachtmusik» ihrer ins kollektive Ohrwurm-Gedächtnis eingegangenen Nachfolgerin und den zahlreichen weiteren Serenaden Mozarts kompositorisch, bei allem Charme, noch nicht das Wasser reichen kann, spielt keine Rolle. Die Aufregung um einen «neuen Mozart» passt vielmehr in unsere Zeit. Ähnliches gab es schon früher, auch bei anderen Komponisten. Etwa 2005, als unter geretteten Manuskripten aus der im Jahr zuvor in Flammen aufgegangenen Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar die Arie «Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn» von Johann Sebastian Bach entdeckt wurde. Oder 2021, als Beethovens nur fragmentarisch entworfene 10. Sinfonie mithilfe künstlicher Intelligenz vervollständigt werden sollte.
Letzteres entpuppte sich als Rohrkrepierer, und auch bei den meisten originalen Fundstücken folgt auf die verständliche Aufregung in der Regel Ernüchterung. Unter den neuen Mozart-Werken wird man mit Sicherheit keine zweite «Zauberflöte» finden – von der Existenz eines derart ambitionierten Werks wüsste die Forschung nämlich längst. Nicht zuletzt durch das «Verzeichnüss aller meiner Werke», das Mozart eigenhändig ab 1784 führte, um nicht gänzlich die Übersicht über seinen atemlosen Output zu verlieren. Was man heute noch aufspürt, sind zumeist Jugendwerke, verworfene Fragmente – sehr charakteristisch für die Arbeitsweise Mozarts, der lieber neu schrieb, als lange mit der Materie zu ringen – oder alternative Fassungen.
Doch das Spiel mit der unbestimmten Erwartung eines neuen «Meisterwerks» erfüllt offenkundig eine Sehnsucht vieler Musikhörer – eine Sehnsucht, den weitgehend ausgeschöpften und von Erstarrung im Immergleichen bedrohten Kanon doch noch um ein paar Trouvaillen angereichert zu sehen. Dagegen ist nichts zu sagen, sofern man sich bewusst macht, dass es sich dabei gleichsam um eine Flaschenpost aus der Vergangenheit handelt.
Die Blickrichtung der Musik ist jedoch nicht zurück-, sondern nach vorn gerichtet: «Allein Freiheit, weitergehn ist in der Kunstwelt wie in der ganzen grossen Schöpfung Zweck», hat Beethoven der Nachwelt ins Pflichtenheft geschrieben. Und mancher heute tätige Komponist wäre dankbar für die Beachtung, die einem Mozart zuteilwird – nur schon für zwölf Minuten neue Musik.