In den vergangenen zwei Jahren hat der Schriftsteller Navid Kermani Madagaskar und den Sudan besucht. In einer grossen Reportage denkt er nach über Hunger, koloniale Schuld und afrikanischen Jazz.
Ob in ferne Kulturstätten oder Krisengebiete, Navid Kermani hat schon manche Reise hinter sich. In den vergangenen zwei Jahren reiste er nach Madagaskar und über Umwege bis in den Sudan. Er tat es im Auftrag der Wochenzeitung «Die Zeit», wo viele der Reportagen, die unterwegs entstanden, zu lesen waren. Unter dem Titel «In die andere Richtung jetzt» sind die Texte nun in einem Buch zusammengefasst worden.
Kermani schildert zunächst nicht Beobachtungen, sondern äussert Gedanken. Über die Bedeutung von Redefreiheit zum Beispiel, wenn er sich an ein Interview nach dem Attentat auf Salman Rushdie erinnert, das er kurz vor der Abreise mit einem Journalisten führte. Daneben die Frage, warum es bettelnde Kinder gibt, während wir hierzulande im extremen Überfluss leben. Wie kam es dazu?
«Ist es die Mentalität», fragt sich Kermani, «oder sind es die einheimischen Eliten, ist es das Weltwirtschaftssystem, der Klimawandel oder letztlich doch der Kolonialismus?» Er erinnert an die Zeiten, in denen in Europa noch die Rede von Wilden war, und überlegt, welche Mentalität durch die Europäer nach Afrika gekommen ist. Jetzt scheint das Land sich selbst auszubeuten, und jeder Wohltäter wird selbst zum Teil des Problems. Hilfsgelder und Investitionen fliessen ab in die Korruption, Fischer zerstören ihre eigenen Küsten.
Das Ausmass der Gewalt
«Was die europäischen Expeditionen einzigartig macht, sind nicht die Entfernungen», schreibt Kermani an einer Stelle. Es sei nicht die Neugierde, nicht die Kühnheit: «Es ist das Ausmass der Gewalt. Und der Erfolg.» So scheint die Frage nach der Ursache beantwortet. Aber es geht dem Autor nicht um ein Anprangern der europäischen Geschichte, auch der arabische Kolonialismus wird in seiner Folgenschwere spürbar. Ebenso wie der Klimawandel, der einen technischen Fortschritt notwendig macht, der die Kultur grundlegend verändern wird.
Im Sudan spricht Kermani mit Anhängern des Widerstandes der Nuba gegen die arabischen Generäle, die den Süden des Landes ausbeuten und militärisch bedrohen. Diese fragen ihn, weshalb ihre Situation in Europa niemanden zu interessieren scheine und die Unterstützung ausbleibe. Die gleiche Frage begegnet ihm auch in Tigray und Madagaskar. Sein Kommentar: «Viel Hoffnung kann ich den Männern nicht machen, dass sich irgendwer im Westen für den Sudan, geschweige denn die Nuba, interessiert, wo doch in Europa selbst ein Krieg tobt und nun auch noch der Nahe Osten zu explodieren droht.»
Musiker führen keine Kriege
Aber Navid Kermani möchte nicht nur das Schlechte zeigen, das ihn selbst immer wieder herausfordert. Er findet auch Schönes. In der Übernahme westlicher Harmonik in die afrikanische Musik zum Beispiel. Sie wird für ihn zur Metapher für das harmonische Zusammenfliessen verschiedener Traditionen und bietet eine Möglichkeit, politische Fragen kurz auszublenden.
Musik sei «die letzte Hoffnung für den Süden», wie es Kermanis Freund, der madagassische Sänger Nainako, sagt. Weil die Menschen mit ihrer Musik von der Not im Süden erzählten, schreibt Kermani. Aber nicht nur von der Not, sondern auch «von der Schönheit der Menschen, dem Reichtum der Kultur und dem Boden, der eigentlich fruchtbar ist, wenn es nur endlich wieder Wasser gäbe». Wie die Musiker möchte auch Kermani vom Leid im Süden erzählen, ohne ein politisches Lamento anzustimmen. Doch was, wenn es kein Wasser mehr geben wird?
Kermani ist mehr als ein Beschreiber dessen, was er sieht. Er macht den westlichen Einfluss spürbar, der sich in vielen Details des Alltagslebens zeigt. Er erläutert die historische Dimension der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und schildert die Gefühle der Menschen. Eine Äthiopierin, die weinend vom Krieg erzählt, fragt er, ob es etwas Schönes in ihrem Leben gebe. «Dass ich dir meine Geschichte erzähle», antwortet sie.
Auf der richtigen Seite der Geschichte
Zu Beginn des Buches liest man mehrmals vom Wunsch des Autors, der für Europäer zum unmöglichen Balanceakt zwischen Perspektivenwechsel und eigener Identität wird, dem Wunsch, auf der «richtigen Seite zu stehen». Er liest sich zwei Jahre nach Kermanis Aufbruch zur Reise im Sommer 2022 völlig anders, nämlich als Anklage im Lichte des Nahostkonflikts.
Angesichts des Krieges ist das Verhältnis von Europa zum Süden noch belasteter geworden: «Morgen wird man gar keine Künstler, keine Intellektuellen mehr von der südlichen Hemisphäre nach Deutschland einladen», schreibt Kermani, «geschweige denn aus der arabischen Welt. Zu gross die Gefahr, dass jemand nicht die Tabus beachtet, vielleicht nicht einmal kennt, die unserer Geschichte geschuldet sind.»
Es wäre ein Fehler, die Analysen zu Afrika und dem Verhältnis ehemaliger Kolonialmächte zu ausgebeuteten Regionen zu stark auf den gegenwärtigen Nahostkonflikt zu projizieren. Trotzdem liefert Kermani mit der Frage nach der persönlichen Verantwortung jedes Einzelnen ein ehrliches, politisch engagiertes Werk. Und ein unbequemes, das vor allem um eines bemüht ist: Verständigung.
Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 272 S., Fr. 39.90.