Das Europäische Parlament ist im Juni nach rechts gerückt. Für Ungarns Ministerpräsidenten bleibt es feindliches Territorium.
Wortgewaltig sind sie ja zumeist, die europäischen Parlamentarier. Den richtigen Ton hingegen treffen nicht alle – und das ist durchaus buchstäblich gemeint. Ein gutes Dutzend linke Abgeordnete erhob sich am Mittwochmorgen im Plenarsaal von Strassburg kurzerhand von den Sitzen und stimmte die italienische Partisanenhymne «Bella ciao» an. Erst als Ratspräsidentin Roberta Metsola sie mehrfach daran erinnert hatte, dass man hier «nicht beim Eurovision Song Contest» sei, beendeten sie ihr Ständchen unter dem Applaus vieler Kollegen.
A Strasburgo ha appena finito di parlare il primo ministro ungherese Orbán. Dall’emiciclo si intona «Bella ciao». pic.twitter.com/lsmdGOXYUV
— sandro ruotolo (@sruotolo1) October 9, 2024
Auslöser für den musikalischen Einschub war die Rede von Viktor Orban, die dieser eben erst beendet hatte. Ungarn hat derzeit die EU-Rats-Präsidentschaft inne, also wollte der Ministerpräsident seine programmatischen Schwerpunkte verkünden. Er hatte dies schon vor drei Wochen beabsichtigt, musste dann wegen der Unwetter aber zu Hause bleiben. Und so war bereits mehr als die Hälfte von Ungarns Ratspräsidentschaft verstrichen, als sich der wohl umstrittenste Politiker Europas an die Parlamentarier wendete.
Was diese von Orban vernommen haben, war für seine Verhältnisse allerdings geradezu brav. Wer erwartet – oder insgeheim gehofft – hatte, dass der einschlägig bekannte Provokateur die Bühne für eine Propagandashow nutzen würde, sah sich getäuscht. Er zählte die Begegnungen auf, die unter der ungarischen Ratspräsidentschaft bereits stattgefunden hätten. Ähnlich wie vor ein paar Wochen der Ex-Zentralbankchef Mario Draghi forderte er einen Fokus auf Europas Wettbewerbsfähigkeit. Die hohen Energiepreise seien ein zentrales Hindernis, die Dekarbonisierung senke die Produktivität. Bei seinem Kernthema, der Migration, forderte er sogenannte «Hotspots» ausserhalb Europas. Neu war dies alles nicht.
Einfallstor für Russen-Spione
Die Emotionen kamen danach. Dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens Geduld mit dem notorischen Störefried am Ende ist, ist hinlänglich bekannt – er hatte sie auch nicht für eine zweite Amtszeit unterstützt. Dennoch erstaunt die Angriffslust, welche die sonst besonnene Deutsche an den Tag legte. Hauptkritik war Ungarns Nähe zu Russland, dem systemischen Gegner der EU: Ohne Orban direkt zu nennen, geisselte sie jene, «die diesen Krieg nicht dem Aggressor anlasten, sondern den Angegriffenen». Dazu passe, dass Ungarn weiterhin Brennstoff aus Russland beziehe und russische Staatsbürger neuerdings «ohne Sicherheitschecks» einreisen lasse. Sie spielte damit auf die neuen Visaregeln an, die aus EU-Sicht ein Einfallstor für russische Spione sind.
Auch von der Leyens Parteikollege Manfred Weber schonte Orban nicht. Dass dieser in seiner Rede die Ukraine nicht einmal erwähnt habe, verstehe sich von selbst. Ungarn habe sich unter seiner Führung völlig verrannt und isoliert, so der EVP-Mann. Es ging in diesem Stil weiter: Ein Redner nach dem anderen griff Orban an, Rückendeckung gab es für ihn nur vom AfD-Vertreter René Aust.
Fehlendes Klopapier im Ungarn
Kurz: Das EU-Parlament ist im Juni zwar nach rechts gerückt – aber an seiner feindlichen Haltung gegenüber dem starken Mann von der Donau hat sich nichts geändert. Selbst die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer fuhr ihm für seine Nähe zum «Chaos-Quartett» – also Russland, Iran, China und Nordkorea – an den Karren.
Aus der Heimat ist Orban derartige Fundamentalkritik nicht gewohnt. Unabhängige Medien gibt es kaum mehr, das Parlament wird von seiner Partei dominiert – diese erlitt bei den Europawahlen zwar eine Schlappe, die nächsten nationalen Wahlen stehen aber erst 2026 an. Entsprechend dünnhäutig reagierte er am Mittwoch. Er sei hier einer «Intifada» ausgesetzt und lehne «voll und ganz ab», was seine Vorredner ihm vorgeworfen hätten, sagte er in seiner Replik.
Selbst Peter Magyar, der aussichtsreichste Oppositionelle Ungarns, schien vom Tonfall in Strassburg eingeschüchtert. Der Auftritt des neuen EU-Parlamentariers war mit Spannung erwartet worden, war es doch das erste Aufeinandertreffen zwischen den beiden, seit der Widersacher in die Politik eingestiegen ist. Magyar blieb zwar verhältnismässig gefasst, er nutzte die Gelegenheit aber, Orban jede Menge Verfehlungen vorzuwerfen. Die Rede des 43-Jährigen war merklich ans heimische Publikum gerichtet, das sonst nur wenig Kritisches zu Ohren bekommt – jedenfalls ist das EU-Parlament nunmehr über offenbar fehlendes Toilettenpapier in ungarischen Spitälern unterrichtet.