Schätzt der Westen das eigentliche Kräftemessen in der Ukraine und in Nahost korrekt ein?
Der neue Krieg ist der Stellvertreterkrieg. Verblasst ist der Klassiker «Staat contra Staat»: vom Trojanischen Krieg (1300 v. Chr.) bis zum Zweiten Weltkrieg, der über 75 Millionen Tote forderte. Das letzte Gemetzel zwischen zwei Staaten war der Irak contra Iran in den achtziger Jahren mit einer Million Gefallenen.
Nach 1945 begann das Urmuster zu zerfallen. Seitdem schlagen nicht Grossmächte aufeinander ein, sondern ihre Erfüllungsgehilfen. Die kämpfen an der Front, von hinten liefern die Grossen Material und Munition. Deren Interessen bedienen die Kleinen neben den eigenen. Die Regel: keine direkte Konfrontation, das blutige Geschäft besorgen die anderen. Ukraine und Nahost bestätigen abermals das neue Muster.
Das Warum liegt auf der Hand. Die Antwort liefert die «Bombe». Im Schatten des Atomaren greifen die alten Gesetze nicht mehr. Stattdessen gilt: Wer schiesst, stirbt als Nächster. Seit Hiroshima hat keine Atommacht je eine andere direkt attackiert, weil die totale Vernichtung droht.
Ein Blick zurück. Amerika kämpfte gegen Nordkorea und Nordvietnam, zielte aber in Wahrheit auf die Sowjetunion und China. In Afghanistan wie im Irak lautete die Parole «Demokratie-Export»; das wahre Ziel war strategisch: Wer lenkt die Zukunft in Mittelost, was schon Alexander der Grosse wollte? So auch im Falle der Sowjetunion, als sie 1979 in Afghanistan einfiel, wo Washington die Mujahedin so lange aufrüstete, bis Moskau abzog. Das nukleare Tabu bewies sich auch in Osteuropa, wo die UdSSR dreimal die «Gleichschaltung» des Warschauer Paktes vollzog: DDR, Ungarn, CSSR. Der Westen wütete, rührte aber keinen Finger. Dein ist nicht mein.
Das eigentliche Kräftemessen
Der Stellvertreterkrieg ist die neue Norm, wie in der Ukraine und in Nahost. Doch lautet die zentrale Frage, ob der Westen, vorweg Amerika, das eigentliche Kräftemessen korrekt einschätzt. In der Ukraine ist die Taktik widersprüchlich. Der Westen liefert zwar Geld und Gerät, aber keine Systeme, die Russland erreichen. Derweil decken Putins Raketen die gesamte Ukraine ab, vernichten die Infrastruktur und töten Zivilisten. An der Militärakademie lernen die Kadetten als Erstes: Angriff ist der Zwilling der Verteidigung, um Aufmarschräume und Nachschubketten zu treffen.
Das Mantra ist «Verhandlungen». Abgesehen davon, dass Putin kein Interesse am Parlieren zeigt, laufen solche Parolen auf «Kapitulation» hinaus: Gebiets- und Souveränitätsverlust unter der Knute des Kremls. Die Erfahrung ist übel. Verhandelt wurde schon in Minsk 2015 nach der ersten Invasion. Der Deal – Waffenruhe, Abzug schwerer Geschütze und freie Wahlen im besetzten Donbass – war schon drei Tage später Makulatur, als Russland erneut angriff. Nun die Grossoffensive gegen das ganze Land.
Ein Sieg des russischen Imperialismus kann nicht das Interesse des westlichen Lagers sein. Auch hier erfordert es keinen nachgeborenen Clausewitz, um die Folgen zu erspähen. Die russische Armee rückte bis an die polnische Grenze vor, zugleich die Ostgrenze der Nato.
Die Neu-Nato-Mitglieder Finnland und Schweden haben die Zeichen richtig gedeutet. Nachgeben schärft den Appetit. Zum Beispiel, als England mit seinem Selbstlob «Peace for our time» die Tschechoslowakei 1938/39 opferte. Wer wäre heute dran? Mit ihren russischen Minderheiten rückten die Balten ins Visier der Subversion. Die Moldau geriete zum Übernahmeobjekt, Polen unter Druck. Dazu braucht man keinen Adolf H.; klassische Grossmachtsambitionen reichen, wenn keine Abschreckung herrscht.
Müssig, zu wiederholen, dass Putin von der Wiedergeburt des alten Imperiums träumt. Apropos alt: Die Wackler im Westen mögen sich die oft zitierte Zirkulardepesche des Zaren-Kanzlers Alexander Gortschakow von 1864 zu Gemüte führen. Da doziert er über die «imperiale Notwendigkeit», die Grossmächte «vorwärtsreisst». Auch für Russland galt: «Die grösste Schwierigkeit ist es, zu wissen, wo man aufhört.»
Die Ukraine ficht einen Stellvertreterkrieg für sich wie für die Allianz. Verliert die Ukraine, wird es das Bündnis bereuen. Abermals Gortschakow: «Jeder Schritt vorwärts führt zu weiteren.» Diese Einsicht ist keine Kriegstreiberei, wie das Friedenslager wähnt. Bloss nicht den reissenden Bären reizen. Nur wird der sich bis Kiew durchfressen, wenn kein Widerstand droht. Gelegenheit macht Diebe.
Nun 2000 Kilometer nach Süden, von Kiew nach Tel Aviv. Israel, obwohl Opfer eines Blutbades mit 1200 Gemordeten, hat seit dem 7. Oktober 2023 eine schlechte Presse: Schuld hat sozusagen, wer zurückschlägt. Die Empörten brüllen: «From the river to the sea», also Finis Israel. In westlichen Kanzleien lautet die Losung «Waffenstillstand jetzt!», als wenn der nicht bloss eine Pause verhiesse, wo seit Jahrtausenden um die Vorherrschaft gekämpft wird.
Wie in der Ukraine geht es auch hier um strategische Imperative, welche die überschaubare Arena zwischen Beirut und Gaza weit überragen. Der verfemte Judenstaat ist zwar eine regionale Supermacht; sie kann mehr hochtrainierte Soldaten und clevere Waffen aufbringen als die Mittelmächte Frankreich oder Deutschland. Aber auch Israel führt in Wahrheit einen Stellvertreterkrieg gegen den ausgreifenden Iran und dessen Handlanger Hamas, Hizbullah und Huthi – sollen doch die drei H bluten, dazu der gepeinigte Libanon.
Symbolik statt Selbstmord
Die Mullahkratie traut sich zu Recht nicht, das nuklearbewaffnete Israel direkt anzugreifen. Allenfalls symbolisch wie mit den Raketen vom April und vom September, die Israel geradezu mit linker Hand neutralisieren konnte, und Teheran wusste es – Symbolik statt Selbstmord. Solche schlagzeilenträchtige Salven sind ein Nebendrama. Deshalb wieder zum Kern: den imperialen Ambitionen des iranischen Gottesstaates.
Der wahre Schauplatz reicht von Gaza und Beirut zum Golf und zum Roten Meer, wo die Huthi eine Ader des Welthandels kappen sollen. Es regiert ein iranisches Langzeitprojekt – seit dem iranisch-irakischen Krieg ab 1980. Seitdem haben sich die frömmelnden Revolutionäre eine Grenze am Mittelmeer verschafft. Sie haben ihre Tentakel bis nach Gaza und Beirut vorgeschoben, dabei den Irak und Teile Syriens unterwandert.
Als Dirigent setzt Teheran auch seine Revolutionswächter und ihre Auslandstruppe Al Quds ein, die sich in Libanon wie in Syrien eingenistet hat. Im Grossraum Mittelost bewaffnet und trainiert Iran zusätzlich zu den drei H sein Gefolge im Westjordanland, im Irak und in Afghanistan. Zusammen bilden sie die Speerspitze Teherans in der gesamten Nahostarena.
Das Machtspiel geht nicht um Gerechtigkeit für die Palästinenser, sondern um die Vorherrschaft. Die Auslöschung Israels, eine ewige Ansage, ist bloss ein Etappenziel. Israel, Amerikas Festlandsdegen, als einzigen verlässlichen Bundesgenossen zu schlagen, hiesse, den Hauptfeind, den «grossen Satan», um den amerikanischen «Hauswart» in Mittelost zu verdrängen.
Ob die Supermacht diese offenkundige Langzeitstrategie erkennt? Abstrakt gewiss. In der täglichen Praxis aber herrscht die gleiche Ambivalenz wie in Osteuropa. Ja, Amerika liefert 2000-Pfund-Bomben, mit der die Führung des Hizbullah ausgeschaltet werden konnte. Die Dienste teilen Erkenntnisse, und Joe Biden bekräftigt Israels Recht auf Selbstverteidigung. Aber die Konfusion lässt sich nach dem Raketenangriff im September mit Händen greifen.
Wackeliges Europa
Erst verbot Biden Attacken auf iranische Atomzentren, solche auf Ölfelder seien okay. Sofort schiessen die Ölpreise hoch, was Donald Trump im Wahlkampf zugutekäme. Kehrtwende Biden: Ölfelder und Pipelines sind doch tabu. Die bange Frage: Hat Washington bis zum Antritt des Nachfolgers im Januar noch einen Chef im Weissen Haus, der die richtigen Entscheidungen trifft?
Es gibt keinen Ersatz für den US-Präsidenten, schon gar nicht in der EU. Monsieur Macron schillert in allen Farben. Auch gegenüber der Ukraine. Die Briten wackeln hin und her, verhängen sogar ein Teil-Waffenembargo, weil sich der Premierminister den antiisraelischen linken Flügel seiner Partei vom Hals halten muss. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock hat sich in der Uno selber aus dem Spiel katapultiert, als sie sich beim Votum für eine sofortige Waffenruhe der Stimme enthielt. Ein Waffenstillstand würde der Hamas einen Rettungsring zuwerfen. Auf diesen «ehrlichen Makler» wird Jerusalem verzichten.
In der Ukraine, wo Russland wieder vordringt, zappelt der Regierungschef Selenski. Israel steht besser da, weil es das Heft in der Hand behält. Es hat Optionen. Es führt zum Beispiel einen schmerzhaften Schlag gegen Iran aus – etwa gegen das Öl-Terminal auf der Insel Kharg, das für 90 Prozent der Öl-Exporte verantwortlich ist. Oder: Mit seinem langen Arm attackiert die israelische Luftwaffe verbunkerte Atomanlagen. Nicht einfach, aber machbar. Die Mullahkratie weiss, was präzise 2000-Pfund-Bomben gegen die Hizbullah-Führung in deren Betonbunker angerichtet haben.
Jenseits der Spekulationen lauert immer wieder die prinzipielle Frage: Wer bekommt was in Europa und Nahost? Putin ist wieder auf dem Vormarsch: Umso mehr sollte die Hilfe für die Ukraine verdoppelt werden. Israel hat treffliche Vorarbeit geleistet. Es versucht die Hamas zu zerschlagen und macht weiter gegen den Hizbullah. Der iranische «Feuerring» um den Judenstaat ist durchbrochen. Er darf sich nicht wieder schliessen, und Teheran weiss, was ihm blüht. Ein Trost für den Rest der Welt: Wohlweislich scheuen beide Kontrahenten den totalen Krieg. Staaten mögen verrückt sein, sind aber nicht blöd.
Doch hilft der Westen allenfalls mit halber Kraft. Obwohl sein strategisches Interesse gebietet, die ausgreifenden Mächte Russland und Iran einzudämmen und abzuschrecken. Der Architekt des «Containment» im Kalten Krieg, George Kennan, verwies seinerzeit auf das Urproblem: Amerika, die Demokratien, sie glichen einem «prähistorischen Dinosaurier-Monster», das sich «bequem im Schlamm wälzt», statt zu checken, wie «seine Interessen verletzt werden». Es sei weise, die Bedrohung früher zu erkennen. Diese Maxime gilt auch heute für Europa und Nahost: «langfristige, geduldige und wachsame Eindämmung». Im Schatten des Atomaren gibt es kein besseres Rezept.
Josef Joffe, deutscher Publizist, hat an den Universitäten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.