Wer Backwaren liebt und in Zürich nicht in Englisch angesprochen werden möchte, dessen Herz lässt «Juliette» höher schlagen. Sie haucht uns «Baguette», «Croissant» und «Mille-feuilles» ins Ohr.
Die französische Lebensart hat längst nicht mehr den Einfluss, den sie noch im 18. Jahrhundert in Europa genoss. Le Cinéma français ist auch nicht mehr, was es einmal war, und die Schuld daran kann niemand Gérard Depardieu in die Schuhe schieben. Die einstige Dominanz der Grande Nation in vielen Lebenslagen verflüchtigt sich heute in den Niederungen des Alltags.
Doch halt! Wenngleich auch die Vormacht der klassischen Cuisine française schwindet, ist in der Gastronomie die alte Faszination am ehesten noch lebendig. In Zürich nennt sich gefühlt jedes zweite neue Lokal «Brasserie», selbst wenn weder Interieur noch Speiseangebot dies rechtfertigen. Und seit knapp einem Jahr pflegt am Bleicherweg nahe dem Restaurant «Le Rendez-vous», das schon länger gekonnt das Savoir-vivre zelebriert, eine Boulangerie das Savoir-faire der Backkunst.
Sie heisst «Juliette» und verführt, ausser mit Süssgebäck, natürlich mit Croissants und Baguettes. Diese sind seit acht Jahren die Domäne des ehemaligen Finanzberaters Seri Wada, der sich zum Ziel setzte, «the best baguette in town» zu fertigen. Die Latte lag in Zürich nicht sehr hoch, Wada meisterte sie spielend, auch seine deftigen Croissants sind sehr beliebt. Aber er will, so munkelt man, nicht ewig backen. Dank «Juliette», die ihr Brot als «pain d’amour» anpreist, muss darob niemand verzweifeln.
Die Initiantin und Hauptaktionärin ist ebenfalls Quereinsteigerin: Stéphanie Borge, Marketingspezialistin mit Pariser Wurzeln und vorher Kadermitglied eines gehobenen Autoherstellers, ging nach eigenen Worten «eine Wette ein, ob Qualität sich noch auszahlt». Und? «Die definitive Antwort habe ich noch nicht. Doch wir sind sehr zufrieden, und es geht nicht nur um den Profit.» 52 000 handgefertigte Croissants au beurre seien etwa bis anhin abgesetzt worden. Inzwischen ergänzt die ersten zwei Standorte in der Enge und in Altstetten einer in Erlenbach, im Herbst kommt ein vierter in Thalwil hinzu.
«Boulangerie & Pâtisserie» steht in der Enge über dem in tiefblaue Farbe getauchten, täglich geöffneten Geschäft im Parterre eines protzigen Geschäftshauses bei der Tramhaltestelle «Tunnelstrasse». Borge bäckt nicht selbst, dieses Team führen hier und in Altstetten zwei junge französische Chefs. Und es lässt sich alles auch online reservieren.
Ins Baguette (Fr. 5.50), das es auch mit Körnern gibt (Fr. 6.–), kommt Mehl aus Frankreich, die grossen Blasen in der Krume sind typisch für den Einsatz von Sauerteig. Im Gestell warten stramm und aufrecht mehr oder etwas weniger gebackene Stangen, die Verkäuferin fragt die Kundschaft nach den Vorlieben: Wer’s bleicher mag am Bleicherweg, erhält ein entsprechendes Exemplar ausgehändigt. Ich wünsche – natürlich inkognito – ein dunkler gebackenes; die Chefin will mir auf Wunsch eines halbieren, doch das Messer erweist sich als stumpf. So gibt sie mir das Ganze mit und verrechnet den halben Preis.
Dieses Baguette hat Klasse und Charakter, und mit dem letzten Rest strecken wir anderntags das dunkle Brot für ein Fondue, wofür es sich weit besser eignet als das fade Weissbrot in manchem Fondue-Stübli. Auch die Buttergipfeli, pardon, Croissants au beurre (Fr. 3.–), sind erstklassig: aussen knusprig und leicht glänzend, innen buttrig, ohne dass die Finger gleich triefen vor Fett. Eine prächtige Brioche Royale (Fr. 8.30) in der Auslage macht ihrem Namen alle Ehre, ebenso wie eine noch prächtigere Galette des Rois am Dreikönigstag.
Etwas Süsses verzehre ich gleich im zugehörigen kleinen Café: Der schlauchartige Raum versprüht nicht gerade Montmartre-Charme, alte Holzstühle und Bistrotische wärmen die nüchterne Atmosphäre leicht auf. Die Vermicelles (Fr. 7.60) erinnern an das, was man in Paris als Mont Blanc kennt: Marroni-Würmchen umhüllen eine rahmige Mousse mit Konfitüre-Kern auf knusprigem Teigboden. Diesen bewahrt eine dünne Zuckerglasur davor, aufgeweicht zu werden – ein Beispiel für die Detailpflege hier. Zur Crème de la Crème diesseits des Röstigrabens zählen die Mille-feuilles mit Caramel-Noten (Fr. 8.60): Der Blätterteig ist dunkelbraun, luftig, knusprig – kein Vergleich zu laschen Lümmeln, die hierzulande oft als Crèmeschnitte durchgehen.
Bref: «Juliette» lässt nicht nur die Herzen der über fünftausend in dieser Stadt lebenden Französinnen und Franzosen höher schlagen. Auch deutschsprachige Kundschaft ruft zum Abschied «Au revoir, à la prochaine», denn an der Kasse wird französisch geredet. Ist das nicht viel sympathischer, als nur noch auf Englisch angesprochen zu werden, wie man’s in Zürcher Lokalen immer häufiger erlebt?
Boulangerie & Café
Juliette
Bleicherweg 72
8002 Zürich
https://juliette-boulangerie.ch/de/shop/
044 430 29 29
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
Die Sammlung der NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.