Mit einer 1-Million-Dollar-Rakete eine Billigdrohne abzuschiessen, ergibt wenig Sinn. Es braucht daher einfache, günstige Methoden zur Drohnenabwehr. Ein Besuch bei einer Nato-Übung zeigt, wie ukrainische und westliche Experten gemeinsam an Lösungen tüfteln.
Die drei Soldaten wären nun tot – ihr Transportfahrzeug wurde von der Granate voll getroffen. Die Kampfdrohne, die diese aus ein paar Dutzend Metern Höhe abgeworfen hat, fliegt wieder zu ihrem Ursprungsort zurück. Sie hat ihre Mission abgeschlossen. Szenen wie diese spielen sich an der ukrainischen Front tagtäglich ab, mit einem Unterschied: Hier, bei dieser Übung in den Niederlanden, sind die Granaten nur mit Kunststoff gefüllt.
Auf der Nato-Basis in Vredepeel ist das Schlachtfeld weit entfernt. Die anwesenden Soldaten aus der Ukraine müssen für einmal nicht um ihr Leben fürchten. Als wäre der Kontrast noch nicht scharf genug, positioniert sich kurz vor dem Mittag ein Glaceverkäufer auf dem Rollfeld des Militärflughafens. Seine Kugeln finden reissenden Absatz.
Zehnmal mehr russische Drohnen als 2023
Und doch hat die grossangelegte Übung, an der über 450 Teilnehmer aus 22 Nato-Staaten und Partnerländern teilgenommen haben, mehr mit dem Kriegsalltag zu tun, als die beschauliche Atmosphäre erahnen liesse. Die Ukrainer sind – zum ersten Mal – hergekommen, um sich bei der rasanten Entwicklung der Drohnentechnologie auf den neusten Stand zu bringen. Mindestens so stark profitieren aber die westlichen Partner von den Erfahrungen, die die Ukrainer aus dem Frontgebiet mitbringen.
«Um die echten Probleme zu verstehen, muss ich mir die Hände schmutzig machen. Dann gehe ich jeweils sehr nahe an die Front», sagt der Software-Entwickler Jaroslaw, der für das Innovationszentrum des ukrainischen Verteidigungsministeriums arbeitet. Seinen vollen Namen will er aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht sehen.
Was er im umkämpften Gebiet beobachtet, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Unbemannte Fluggeräte haben die Kriegsführung grundlegend verändert. Rund um die Uhr sind sie in der Luft, beide Kriegsparteien investieren gigantische Summen, um neue Geräte anzuschaffen. Mitte September hat Russlands Präsident Wladimir Putin stolz bekanntgegeben, die eigene Drohnenproduktion dieses Jahr um den Faktor zehn auf 1,4 Millionen Stück auszubauen. Die Ukraine hat ihrerseits im Februar eine Drohnen-Streitkraft ins Leben gerufen, die mit Heer, Luftwaffe und Marine auf einer Stufe steht.
Der Spion der Artillerie
Doch Drohne ist nicht gleich Drohne. Es gibt jene, die töten. Sie sind mit Munition beladen und nehmen die gegnerischen Soldaten, Fahrzeuge und Gebäude direkt ins Visier. Die Schilderungen, welche die ukrainischen Soldaten von den Schützengräben an der Front in die heile Welt Westeuropas mitbringen, sind grausam.
Die Kampfdrohnen jedoch sind nicht jene, die Jaroslaw am meisten fürchtet. «Am gefährlichsten sind die Aufklärungsdrohnen. Sie übermitteln unsere Positionen der gegnerischen Artillerie, die dann mit ungemein mehr Kraft zuschlägt», sagt er.
Umso wichtiger ist die Abwehr geworden – und genau darauf liegt der Fokus der zehntägigen Nato-Übung. Ein Allheilmittel gibt es nicht. Je nach Grösse, Flughöhe, Geschwindigkeit oder auch Witterung sind unterschiedliche Methoden sinnvoll.
Zu Beginn des Ukraine-Krieges spielten Kampfdrohnen noch kaum eine Rolle. Die extrem kostengünstigen, mit Sprengstoff beladenen FPV-Drohnen («first person view») wurden bis weit ins Jahr 2023 auf dem Kampffeld selten gesichtet. Auch die teureren Aufklärungsdrohnen, die in mehreren Kilometern Höhe fliegen und weit ins Landesinnere vordringen können, waren weniger verbreitet.
Entdeckten die ukrainischen Verteidiger diese mit ihren Radarsystemen, antworteten sie zu Beginn mit klassischer Flugabwehr. «Aber mit einer eine Million Dollar teuren Rakete auf eine 50 000-Dollar-Drohne zu schiessen, ergibt keinen Sinn», sagt Jaroslaw. Eine solche Asymmetrie zugunsten des Angreifers kann auf die Dauer nicht hingenommen werden.
Effiziente Kamikazedrohnen
Also mussten günstigere Alternativen her. Verteidigungsdrohnen, die ein Netz auf die gegnerischen Drohnen abwerfen und deren Rotoren blockieren, hören sich nach einer bestechend einfachen Methode an. Die ukrainischen Verteidiger haben aber unbefriedigende Erfahrungen damit gemacht – zu komplex ist es, das Netz im genau richtigen Moment zu platzieren. Für die Nato-Partner sind dies wichtige Erkenntnisse, die sie in ihre eigenen Verteidigungspläne aufnehmen.
Vielversprechender sind Kamikazedrohnen. Sie stürzen sich aufs feindliche Objekt und bringen es, wie sich selbst auch, zum Absturz – dafür braucht es nicht einmal eine Sprengladung. Laut Jaroslaw ist dies derzeit die effizienteste Art, russische Drohnen zu bekämpfen. Entscheidend sei die Geschwindigkeit des eigenen Geräts. Doch auch Kamikazedrohnen sind keine Wunderwaffen. Je nach Witterungsbedingungen können sie nur beschränkt eingesetzt werden und sind von feindlichen Drohnenschwärmen überfordert.
Zudem wird auch das eigene Gerät zerstört – der Einsatz verursacht also Kosten. Günstiger sind elektronische Störsender, die entsprechend an Bedeutung gewonnen haben. Drohnen benötigen Funkverbindungen, um ihre Position zu bestimmen, Befehle zu empfangen und Daten zu senden. Schafft man es, diese Signale zu überlagern, zu unterbrechen oder zu überlasten («jamming»), kann das Fluggerät nicht mehr korrekt navigieren.
Wie effektiv dies sein kann, zeigt die Nato-Übung in Vredepeel. Das Szenario mit den drei Soldaten im Fahrzeug wird wiederholt – doch diesmal hat die Abwehr den Störsender, der wie eine umgebaute Handy-Antenne aussieht, aktiviert. Nun hat der Drohnenpilot keine Chance mehr: Er verliert die Kontrolle vollständig. Die Verteidiger schaffen es sogar, das Gerät an der von ihnen gewünschten Stelle zu Boden gehen zu lassen. Die Soldaten verlassen ihr Gefährt ohne einen Kratzer. An der Front wären nun drei Leben gerettet.
«Google for Military»
Elektronische Kriegführung gehört in der Ukraine zum militärischen Alltag, auf beiden Seiten. Auch die Angreifer umgeben ihre wichtigen Waffensysteme mit Störsendern, um nicht von gegnerischen Drohnen ausgeschaltet zu werden. Gleichzeitig entwickelt sich wohl keine militärisch nutzbare Technologie derart rasant wie diese: Was heute zur Abwehr taugt, ist morgen schon veraltet. So gehört es mittlerweile zum Standard, dass eine Drohne über mehrere Frequenzen kommunizieren kann, womit die Wahrscheinlichkeit sinkt, entdeckt und gestört zu werden. «Es ist ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel», sagt Matt Roper, Chef der Nato für gemeinsame Aufklärung, Überwachung und Zielerfassung.
Bei diesem Rennen die Nase vorne zu haben, ist überlebenswichtig. Die Ukraine hat das Gefechtsmanagementsystem Delta – im Feld «Google for Military» genannt – entwickelt, das sich auf den Kampf gegen Drohnen spezialisiert hat und auch bei der Nato auf Interesse stösst. Die Nato-Staaten wiederum bringen die Ukrainer in Kontakt mit der neusten Technologie, wie sich im riesigen Armeezelt neben der Flugpiste in den West-Niederlanden zeigt.
Wären nicht die vielen Uniformen und der Kaffee aus dem militärgrünen Getränkebehälter, man würde sich auf einer Tech-Messe im Silicon Valley wähnen. Rund sechzig Unternehmen, die meisten von ihnen Startups, sind zusammengekommen, um Erfahrungen zu teilen und sich gleichzeitig den Nato-Befehlshabern zu empfehlen.
Wie ethisch muss eine Drohne sein?
Die einen bieten eine besonders ausgeklügelte Software zur automatischen Erkennung von feindlichen Stellungen an. Bei anderen schneidet eine Art Zange die Rotoren des Gegners durch. Dritte tüfteln daran, wie Drohnen dank künstlicher Intelligenz vollständig autonom operieren können – was nicht zuletzt ethische Fragen aufwirft, weil dann kein Mensch mehr über die tödlichen Einsätze entscheidet.
Viele dieser Firmen stammen aus der zivilen Welt. Sie hatten Drohnen für die Auslieferung von Paketen oder zur Inspektion von Industrieanlagen entwickelt – bis die Verteidigungsindustrie mit ihren gegenwärtig schier unbegrenzten Möglichkeiten rief. «Das Geld ist derzeit nicht das Problem. Das Problem ist die schnelle Verfügbarkeit des richtigen Materials», sagt der Nato-Kadermann Roper. Also hat manch ein Techie umgesattelt und macht nun mit den Mitgliedstaaten Geschäfte.
Dass die Firmen nicht plötzlich auch Russland oder China beliefern, dagegen hat sich die Nato vertraglich abgesichert. Den strategischen Vorteil will man nicht leichtfertig vergeben. Die bittere Realität auf den Schlachtfeldern der Ostukraine zeigt aber: Auch die Russen und ihre Partner rüsten ihre Kampfdrohnen ständig auf. Die Büchse der Pandora ist längst geöffnet. Und wie die stark wachsenden Armeebudgets beider Seiten zeigen, wird sie so schnell nicht wieder geschlossen.