Der Hersteller Swiss P beteuert, alle geltenden Bestimmungen der Schweiz eingehalten zu haben. Das zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft untersucht den Sachverhalt.
Ein Schuss, ein zweiter, je nach Einsatzdistanz ein dritter und ein vierter, dann raus aus der Stellung und verschwinden – Scharfschützen schiessen nur auf ausgesuchte Schlüsselziele: einen gegnerischen Kommandanten, Einzelschützen inmitten einer Menschenmenge oder Funkgeräte. Der Verbrauch an Munition pro Einsatz ist gering. Die Position des Snipers, des Scharfschützen, soll möglichst unerkannt bleiben.
145 000 Schuss Sniper-Munition, Kaliber 0,338 Magnum Lapua, hergestellt bei Swiss P, der einstigen Munitionsfabrik Thun und späteren Ruag Ammotec: Das reicht für Hunderte von Einsätzen. Genau diese Stückzahl steht auf der Google-Übersetzung eines Lieferscheins, der ein amerikanischer Journalist in einem Text für das renommierte Branchenportal «Defense One» publiziert hat: Eine polnische Firma liefert 145 00 Schuss Schweizer Sniper-Munition – in die Ukraine.
Damit nicht genug: Auf einem zweiten Begleitdokument werden 500 000 Stück Munition erwähnt. Diesmal ist ein Nato-Standard-Kaliber für Sturmgewehre ausgewiesen, ebenfalls vom Schweizer Produzenten Swiss P. Der Lieferant in Polen ist die UMO SP, ein Unternehmen, das auf Dienstleistungen für die polnische Polizei und Spezialkräfte spezialisiert ist. Über den Empfänger, die LLC Ukrainska, sind in offenen Quellen keine spezifischen Informationen zu finden.
Alle Gesuche abgelehnt
Hat der Weiterverkauf von Schweizer Munition tatsächlich so stattgefunden, käme das Kriegsmaterialgesetz (KMG) ins Spiel. Darin wird die Ausfuhr von Schweizer Rüstungsgütern in kriegführende Länder strikt verboten – inklusive Wiederausfuhr. Das Gesetz wurde kein Jahr vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 verschärft. Private Firmen wie die UMO SP müssen allerdings keine Wiederausfuhrerklärung unterschreiben. Der Fall ist also komplex.
Zusätzlich hat der Bundesrat in der Ukraine-Verordnung, womit die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland praktisch geregelt wird, die militärische Gleichbehandlung der Konfliktparteien festgeschrieben. Begründet wird dies mit einer orthodoxen Auslegung der Neutralität: Die Schweiz macht keinen Unterschied zwischen dem Angreifer, der das Gewaltverbot missachtet, und dem Verteidiger.
Der Bundesrat hat deshalb auch aus grundsätzlichen Überlegungen ausländische Gesuche für die Wiederausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine abgelehnt: Weder wurde Deutschland erlaubt, 12 400 Schuss 35-Millimeter-Munition für den Fliegerabwehrpanzer Gepard weiterzugeben, noch darf Dänemark seine ausser Dienst gestellten Piranha-Radschützenpanzer liefern.
Keine Antwort aus Polen
Die Schweiz steht wegen dieser restriktiven Praxis in der Kritik ihrer westlichen Partner. Die Schweizer Armee könnte auf der Prioritätenliste der ausländischen Hersteller nach hinten rutschen. Erste Länder wollen auf die Beschaffung von Kriegsmaterial, made in Switzerland, verzichten. Für den Bund und vor allem die Rüstungsindustrie wäre also ein illegales Polen-Ukraine-Geschäft äusserst unangenehm.
Der Hersteller der Scharfschützen- und Sturmgewehrmunition hält deshalb auf die Anfrage der NZZ fest: «Swiss P Defence beliefert ihre Kunden immer und ausschliesslich im Rahmen der geltenden gesetzlichen Bestimmungen der Schweiz.» Zu keinem Zeitpunkt sei Munition in ein Embargoland exportiert worden.
Weiter versichert Swiss P, seit vergangenem Jahr eine Tochterfirma des italienischen Produzenten Beretta, sich mehr als gesetzlich notwendig abgesichert zu haben: «Der vom Verdacht betroffene Kunde hat seinerseits bestätigt, dass die Munition an Lager genommen wird und für polnische Regierungsinstitutionen vorgesehen ist.» Der Kunde, die polnische UMO SP, hat eine schriftliche Anfrage nicht beantwortet.
Heikelste Möglichkeit: grünes Licht aus Polen
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das für die Exportkontrolle zuständig ist, schreibt, dass es den Fall abkläre: «Das Seco hat Kenntnis von dem Bericht, dass Schweizer Munition über Polen in die Ukraine gelangt sein soll, und hat Exporte an ein polnisches Unternehmen identifiziert, die betroffen sein könnten.»
Die Rekonstruktion des Falls kann einige Zeit in Anspruch nehmen, wie die illegale Wiederausfuhr von Eagle-Aufklärungsfahrzeugen über Deutschland an die Ukraine zeigte. Im Frühling hat die NZZ aufgedeckt, dass ein deutscher Zwischenhändler elf Eagle-Aufklärungsfahrzeuge aus Schweizer Produktion ohne Genehmigung weitergegeben hatte. Das Seco hat den betroffenen Lieferanten gesperrt.
Im besten Fall kann das Problem auch bei der Scharfschützen- und Sturmgewehrmunition auf diese Weise elegant und ohne grosse Publizität in Polen gelöst werden, allenfalls sogar mit einer simplen Ermahnung. Diplomatisch heikler wäre allerdings, wenn die polnischen Kontrollbehörden die Wiederausfuhr in die Ukraine genehmigt – und sich damit über die schweizerische Gesetzgebung hinweg gesetzt hätten.
Munition für Barrett Mrad
Eine Protestnote an die polnische Regierung könnte eine Polemik um die mangelnde Solidarität der Schweiz mit der Ukraine auslösen. Zum Vergleich: Warschau äussert die Kritik über das deutsche Zögern bei den Waffenlieferungen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Die Schweiz müsste sich also auf ein paar harte Worte gefasst machen. Warschau hat eine E-Mail der NZZ bisher nicht beantwortet.
Die Munition von Swiss P käme der ukrainischen Armee sehr gelegen – insbesondere die Scharfschützenmunition: Eines der präzisesten Sniper-Gewehre, das Barrett Mrad, hat das Kaliber 0,38 Magnum Lapua – genau wie die mutmassliche Lieferung von Schweizer Munition aus Polen. Im harten Abnützungskampf gegen die russischen Besatzer ist der Nachschub zu einem erfolgskritischen Faktor geworden.