Es mag ein trockener Januar sein, aber unser geflügelter Bar-Tester macht sich nichts draus: Er fliegt von Theke zu Theke, diesmal in Bern.
In diesem Dry January, den manche der alkoholfreien Entgiftung widmen, werden Rufe nach noch weiter führendem Verzicht laut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt nun gar, mit 0,0 Promillen durchs Leben zu gehen. Werden dadurch die Flügel des Nachtfalters schwer?
Mitnichten! Jetzt ergibt seine Mission erst recht Sinn, geniesst er doch, mit Mass und ohne Reue, auch stellvertretend für andere: Mit ihm dürfen alle, die sich Abstinenz auferlegen, in Gedanken von Theke zu Theke flattern. Diesmal tragen ihn die zarten Flügel an einem Freitag nach Bern, wo er in einer milden Winternacht durch die Lauben der Altstadt zieht, eines Unesco-Weltkulturerbes.
Gegen Mitternacht passiert er an der Kramgasse das charmant winzige Kellerkino, gegen dessen modrigen Geruch gerade ein Staubsauger ankämpft, kurz danach führen steile Kellerstufen hinunter zur «Abflugbar». Dort wird ihm zu einem kleinen Negroni ungefragt und ohne Aufpreis eine Flasche Hahnenwasser gestellt, was in dieser gastfreundlichen Stadt noch immer üblich zu sein scheint (und bekanntlich auch den Alkoholgenuss verträglicher macht).
Beschwingt geht der Ausflug weiter über die Rathausgasse, wo rund ums Zibelegässli der Berner Bär noch in den Bars tanzt um halb eins, zum dreihundertjährigen «Kornhauskeller», im Volksmund «Chübu». Den Gastbetrieb führt seit über zwanzig Jahren die Bindella-Gruppe aus Zürich, wo man die Nase gern hoch trägt, aber keinen annähernd so prächtigen Barockkeller kennt.
Das Restaurant unten ist um diese Uhrzeit zu, aber auf der Galerie unter dem reich bemalten Kreuzgewölbe gibt es bis spät Drinks in phantastischem Ambiente. Drei Frauen wirbeln hinter der Theke, der Falter bestellt von der inspirierten Cocktail-Karte den «Prima (sic!) Amore» (Fr. 18.–): Amaretto, der pikante Berner Likör Ingwerer, Bergamottesirup, Eiweisspulver paaren sich unter einem Rosmarinzweig harmonisch, light and tasty. Zehn Eiswürfel im Glas sind allerdings etwas viel, dafür werden Leitungswasser und Chips erst auf Nachfrage gereicht.
Die imposante Treppe hinauf geht’s zurück an die frische Luft. Gleich um die Ecke wartet die letzte Station, die nach einer allerersten klingt: der «Kreissaal» (ums dritte «s» beraubt). Dass in diesem Raum einst geboren wurde, gilt als nicht gesichert, aber das denkmalgeschützte Haus diente jahrzehntelang als öffentliche Entbindungsanstalt. Anfang der 1990er Jahre entstand eine illegale Bar, deren Geist noch hier atmet, wenngleich seit einem Vierteljahrhundert legal ausgeschenkt wird. Dies geschieht auch unter der Woche bis morgens um halb drei – hierzulande fast eine Sensation.
Die Band Züri West hat dem Lokal 1996 in «Sofa» gar eine Liedzeile gewidmet: «. . . zersch i d’glogge, dert hei mr öppis gässe / när i d’pery bar – dert ha’re blueme gkauft / u im kreissau het sie se vergässe.» Die Patina der zweigeschossigen Trinkstätte zwischen Sandsteingemäuer erinnert den Falter an die «ruin bars» in Budapest. Das Publikum ist alternativer als im edlen «Kornhauskeller», aber bunt gemischt und zu einem guten Teil weiblich. Unter Dreissigjährige sitzen eher unten im Soussol, wo feilgebotene Schnapsflaschen hinter Gittern warten wie Schwerverbrecher.
Im überschaubaren Parterre drängen sich um ein Uhr vierzig Leute, die drei Barmen haben zu tun. Ihre Ordnung am Arbeitsplatz würde bei Bartender-Wettbewerben bestimmt Punktabzüge zeitigen, preiswürdig ist aber ihre Getränkekarte, durch deren Texte sich eine existenzialistische Spur zieht. Sie umfasst Klassiker von Aviation bis Vesper; in diese Martini-Variation mit Bitternoten, die Ian Fleming vor siebzig Jahren für seinen Agenten 007 ersann, kommt hier der wunderbare Kina L’Aero d’Or der Brennerei Matter Spirits aus dem Berner Seeland.
Hinzu kommen starke Eigenkreationen (Fr. 17.–) wie der mit scharfem Habanero-Chili geliftete «Mickey Rourke» und der Rum-basierte «Max Angst». Jener ist laut schriftlicher Deklaration des Barchefs «im Grunde nur ein psychedelischer Margarita», dieser eine Hommage an seinen Grossvater, der nie getrunken habe, ausser am Turnfest. Heben wir gemeinsam mit der WHO das eisgekühlte Glas auf den Opa! Es kann ja auch das automatisch dazugestellte Glas voll Wasser sein, das am Tresen nachgefüllt wird, sobald es leer ist.
So werden in diesem Kreisssaal die Minuten liquid, und zu vorgerückter Stunde ist hier schon manche Idee geboren worden. Der Falter aber ist reif fürs Bett, in das er sanft fällt im ebenso preisgünstigen wie sympathischen Berner Hotel «Alpenblick».
Bar
Kreissaal
Brunngasshalde 63
3011 Bern
Sonntags und montags geschlossen
Telefon 031 312 5000
Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in Städte anderer Landesteile.
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