Der Verfasser von Bildergeschichten ist weltberühmt. Wilhelm Buschs Lyrik ist weitaus weniger bekannt. Doch schon sein erster, vor 150 Jahren erschienener Gedichtband provozierte – mit erotischen Versen.
Das Leben macht uns zu Sammlern. Die einen kümmern sich um Briefmarken, andere häufen Autos oder Firmen an. Uns allen gemeinsam ist aber: Wir sammeln unzählige Erinnerungen. Etwa an die Buben Max und Moritz und ihre Streiche. Viele assoziieren heute den Namen Wilhelm Busch nur mit lustigen Bildergeschichten. Doch er hat auch in vielen Gedichten brilliert:
«Wie es scheint, ist die Moral / Nicht so bald beleidigt, / Während Schlauheit allemal / Wütend sich verteidigt. / Nenn den Schlingel liederlich, / Leicht wird er’s verdauen; / Nenn ihn dumm, so wird er dich, / Wenn er kann, verhauen.»
Diese klugen Verse lassen etwa an Populisten denken, die kein Problem mit Skrupellosigkeit haben; die sich aber schnell angegriffen fühlen, wenn ihre Intelligenz in Zweifel gezogen wird. Das erstmals 1904 publizierte Gedicht bringt den schweren Stand der Moral perfekt auf den Punkt.
Wer sich ausgiebiger mit Wilhelm Busch befasst, stellt schnell fest: Zum Gesamtwerk des 1832 geborenen Niedersachsen zählen auch viele Gedichte. Seinen ersten Lyrikband, «Kritik des Herzens», veröffentlichte er im Oktober 1874. Zu diesem Zeitpunkt war Busch 42 Jahre alt und schon sehr bekannt. Denn neun Jahre zuvor hatte er mit grossem Erfolg «Max und Moritz» publiziert; auch seine populären Werke «Hans Huckebein» (1867) und «Die fromme Helene» (1872) waren schon auf dem Markt.
Der Dichter wird beschimpft
Die «Kritik des Herzens» (insgesamt 81 Gedichte) wurde deutlich weniger gefeiert als seine Bildergeschichten. Das Publikum war einen anderen Wilhelm Busch gewohnt: den, der grandiose Verse und Bilder unterhaltsam kombinierte. Jetzt konfrontierte er es in manchen Gedichten mit einer ungewohnten Nachdenklichkeit. Die lauteste Kritik artikulierte sich jedoch aus anderen Gründen. Busch erwähnte in einem Brief, dass sein erster Gedichtband «vielfach mit einer gewissen sittlichen Entrüstung zurückgewiesen wurde».
Der türkische Generalkonsul in Leipzig, Gustav Spiess, hatte einen wütenden Brief an den Verlag geschrieben. Die «Kritik des Herzens» sei ein «erbärmliches Sammelsurium» von «Missgeburten». Der Lyrikband gehöre «ins Feuer». Viele Gedichte seien «schmutzig-lasziv», das Werk insgesamt ein «Wust von Trivialem, Schalem und Obszönem».
Diese aufgebrachte Interpretation überrascht sehr, wenn man die Gedichte liest. Will man, wie Herr Spiess, Obszönes entdecken, muss man diesen Begriff sehr weit dehnen. Vielleicht dachte der Kritiker an die folgenden Zeilen, die aber auch schon vor 150 Jahren als relativ harmlos galten: «Wärst du ein Bächlein, ich ein Bach / So eilt ich dir geschwinde nach. / Und wenn ich dich gefunden hätt’ / In deinem Blumenuferbett: / Wie wollt ich mich in dich ergiessen / Und ganz mit dir zusammenfliessen.»
Wie in seinen Bildergeschichten hält Busch auch in der «Kritik des Herzens» der Gesellschaft satirisch den Spiegel vor, meist mit feiner Ironie und brillanten Ideen. Er ist ein exzellenter Beobachter seiner Umgebung, und sein Spott macht vor niemandem halt – schon gar nicht vor frommen Kaplänen, betrunkenen Geizhälsen oder scheinheiligen Ehemännern. Mit viel Witz entlarvt er übertriebene Eitelkeit, Heuchelei und philosophische Debatten.
Gesellig und trinkfreudig
Seine humorvollen Gedichte passten für die Zeitgenossen in das Bild, das sie von Busch hatten. Neu dagegen erschien vielen der ernste Ton mancher Verse. Etwa in den Gedichten über eine verstorbene Vertraute («O du, die mir die Liebste war») oder über einen gütig Verzeihenden («Ich habe von einem Vater gelesen»). Nicht neu war sein sezierender Blick auf Allzumenschliches:
Er war ein grundgescheiter Mann,
Sehr weise und hocherfahren;
Er trug ein graumeliertes Haar,
Dieweil er schon ziemlich bei Jahren.
Er war ein abgesagter Feind
Des Lachens und des Scherzens
Und war doch der grösste Narr am Hof
Der Königin seines Herzens.
Wilhelm Busch selbst war sicherlich kein «Feind des Lachens und des Scherzens». Als er in München lebte (1854–1868), war er im Kreis seiner Künstlerfreunde als geselliger, trinkfreudiger und humorvoller Kamerad geschätzt. Daher wird er nicht das ganze Gedicht auf sich selbst bezogen haben. Aber zumindest die letzten beiden Zeilen – das Motiv des Narren – passen gut zu zwei biografischen Ereignissen, die wenige Jahre zurücklagen.
1864 hatte Busch sich in Wolfenbüttel in eine junge, 17-jährige Frau verliebt. Bei ihrem Vater hielt der damals 32-Jährige, laut Busch-Biografien, um die Hand der Tochter an – erfolglos. An einen Freund schrieb er: «Ein hübsches Kind, das ich da wieder fand, bot mir auf’s neue manch heimlich-gute Stunde. Ein närrisches Herz, was der Mensch im Leibe hat!»
1868 war Wilhelm Busch nach Frankfurt am Main gezogen. Sein Bruder Otto hatte dort eine Erzieherstelle in der Familie des Bankiers Kessler. Dessen Frau Johanna war Kunstsammlerin und begeistert von einigen Ölgemälden Buschs. Sie stellte ihm ein Atelier und eine Wohnung zur Verfügung; er wurde zum Hauskünstler der Kesslers. Viele seiner Ölbilder blieben im Besitz seiner Mäzenin. Johanna Kessler war für Busch aber mehr als das, wie einigen seiner Briefe zu entnehmen ist. Er verliebte sich in sie. Doch die Bankiersgattin, die ihn bewunderte, ging keine Liebesbeziehung mit ihm ein. Busch wurde ein «Narr am Hof der Königin seines Herzens».
1872 verliess er Frankfurt und zog wieder in seine niedersächsische Heimat Wiedensahl. In einem späteren Brief an Johanna Kessler thematisierte er die verzwickte Beziehung zu ihr: «derweil wir wandeln, geht all das Gute, was wir nicht gethan und all das Liebe, was wir nicht gedurft, ganz heimlich leise mit uns mit, bis dass die Zeit für dieses Mal vorbei.» Die gesellschaftlichen Zwänge verhinderten wohl, dass sich Johanna Kessler auf eine intimere Zweisamkeit einlassen konnte. Daher passt auch ein weiteres Gedicht aus der «Kritik des Herzens» zu dieser platonischen Beziehung:
Hoch verehr ich ohne Frage
Dieses gute Frauenzimmer.
Seit dem segensreichen Tage,
Da ich sie zuerst erblickt,
Hat mich immer hoch entzückt
Ihre rosenfrische Jugend,
Ihre Sittsamkeit und Tugend
Und die herrlichen Talente.
Aber dennoch denk ich immer,
Dass es auch nicht schaden könnte,
Wäre sie ein bissel schlimmer.
Vergebliche Liebeshoffnungen
Wilhelm Busch blieb ein Leben lang Junggeselle. Von längeren Beziehungen ist nichts bekannt. Nicht einmal aus dem turbulenten Künstlerleben in München sind Affären mit Frauen überliefert. Er selbst hat alles dafür getan, dass möglichst wenig aus seinem Privatleben publik wird. Denn er vernichtete fast alle Briefe an ihn. Offensichtlich wollte er verhindern, dass die Nachwelt zu viel über ihn und seine Erlebnisse mit Frauen erfährt. Das meiste weiss man aus Buschs Briefen an sie.
Das gilt auch für seinen Kontakt zu der niederländischen Schriftstellerin Marie Anderson. Sie hatte nach der Publikation der «Kritik des Herzens» an ihn geschrieben. Aus seiner Antwort wird ersichtlich, dass sie seine Gedichte sehr gelobt hat. Nach regem Briefwechsel trafen sich die beiden auch einmal. Davon hatte sich Busch mehr erhofft als nur Gespräche über Philosophie, Literatur und das Leben. Vergeblich.
Als die «Kritik des Herzens» erschien, hatte der 42-jährige Busch ereignisreiche Jahrzehnte hinter sich. Drei Wochen nach Goethes Tod war er am 15. April 1832 zur Welt gekommen. Sein Geburtsort: das vierzig Kilometer westlich von Hannover gelegene Wiedensahl, ein kleines Dorf mit damals rund 800 Einwohnern. Sein Vater führte den örtlichen Krämerladen, die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die sieben Kinder. Wilhelm, das älteste Kind, musste im Alter von 9 Jahren das Elternhaus verlassen – auch der besseren Ausbildung wegen. Er kam in die Familie seines Onkels. Dieser war Dorfpastor in Ebergötzen, nahe Göttingen, und gab dem Neffen nun Privatunterricht. Im Sohn des Müllers fand Wilhelm dort einen Freund fürs Leben. Einige ihrer Abenteuer flossen auch in manche Bildergeschichten ein.
Nach seiner Schulzeit begann er mit 16 ein Maschinenbaustudium in Hannover. Die Begeisterung für das Fach hielt sich in Grenzen. Immerhin, so schreibt er später, «erkämpfte» er sich als Student 1848 «die bislang noch nicht geschätzten Rechte des Rauchens und des Biertrinkens». Diese «Rechte» blieben ihm in den nächsten Jahrzehnten erhalten – und brachten ihm später unter anderem eine Nikotinvergiftung ein.
Zeichnerisches Talent
1851 hatte Busch genug von Maschinenbau und folgte seiner Leidenschaft: Er begann ein Kunststudium, zunächst in Düsseldorf, danach in Antwerpen. Dort hatte der 20-Jährige ein Schlüsselerlebnis, als er die Werke von Rubens, Brouwer und Hals bestaunte. Sie «haben für immer meine Liebe und Bewunderung gewonnen», schrieb er viele Jahre später; «und gern verzeih ich’s ihnen, dass sie mich zu sehr geduckt haben, als dass ich’s je recht gewagt hätte, mein Brot mit Malen zu verdienen». Busch studierte später noch in München Kunst. In den nächsten Jahrzehnten malte er regelmässig Ölbilder. Aber bis zu seinem Lebensende stellte er kein einziges seiner Bilder öffentlich aus. Hunderte Gemälde fand man nach seinem Tod bei ihm zu Hause.
Die Münchener Zeit wurde prägend für sein weiteres Leben. Nicht nur weil er viele Künstlerfreunde fand und mit ihnen ausgiebig feierte. Sondern auch, weil er anfing, Karikaturen zu zeichnen und humoristische Texte zu verfassen. Ein Verleger wurde auf Buschs zeichnerisches Talent aufmerksam. Er gab ihm ab 1858 erste Aufträge für seine satirischen Zeitungen «Fliegende Blätter» und «Münchener Bilderbogen». Hier kreierte Busch seinen unvergleichlichen Stil, der seine Bildergeschichten zu Publikumserfolgen machte und die Geschichte des Comics stark beeinflusste.
Als er 1874 die «Kritik des Herzens» publizierte, war er nicht nur ein populärer Künstler. Er erhielt inzwischen – im Gegensatz zu seinen Anfängen – auch gute Honorare für seine Arbeiten. Wegen der zahlreichen Auflagen vieler Werke ging es Busch künftig finanziell sehr gut. Sein eher erfolgloser erster Lyrikband trug dazu zwar wenig bei, hinterliess uns aber wunderbare Verse:
Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab’ ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp’ ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;
Trotz aller Ironie und allem Witz: Seine Lebens- und Leseerfahrung drängte ihm in dieser Zeit ein negatives Menschenbild auf. Er hatte sich intensiv mit der pessimistischen Philosophie von Arthur Schopenhauer befasst. Man solle sich eingestehen, so Busch, «dass wir nicht viel taugen ‹von Jugend auf›». Für ihn waren der Ungehorsam von Kindern und die Boshaftigkeit von Erwachsenen tief in unserem Wesen angelegt. «Es saust der Stock, es schwirrt die Rute. / Du darfst nicht zeigen, was du bist. / Wie schad, o Mensch, dass dir das Gute / Im Grunde so zuwider ist.»
Boshafte Verse
In ein eigenes Exemplar seiner «Kritik des Herzens» notierte er: «In kleinen Variationen über ein bedeutendes Thema soll dieses Büchlein ein Zeugnis meines und unseres bösen Herzens ablegen.» Seine unzufriedene Grundstimmung liess ihn damals die eigenen Gedichte übertrieben negativ einschätzen. Denn meistens legt seine Lyrik Zeugnis nicht über seine Bosheit ab, sondern über seinen präzisen Blick auf die Mitmenschen – auch auf Kinder.
Die Tante winkt, die Tante lacht:
He, Fritz, komm mal herein!
Sieh, welch ein hübsches Brüderlein
Der gute Storch in letzter Nacht
Ganz heimlich der Mama gebracht.
Ei ja, das wird dich freun!
Der Fritz, der sagte kurz und grob:
Ich hol ’n dicken Stein
Und schmeiss ihn an den Kopp!
Gedichte mit bösartigen Protagonisten sind einzelne Ausnahmen in der «Kritik des Herzens». Öfter tauchen grüblerische Verse auf. Aber ohne originellen Humor kommt Busch auch in seiner Analyse des Herzens nicht aus. Zwar gibt es in seiner ersten Lyriksammlung auch schwächere Gedichte. Doch viele haben die 150 Jahre gut überstanden. Und einige sind grosse, zeitlose Kunst. Einfluss auf seine Lyrik hatte sicherlich Heinrich Heine, der achtzehn Jahre vor der Veröffentlichung der «Kritik des Herzens» gestorben war.
Wenn man sich intensiv mit Wilhelm Busch auseinandersetzt, wird man ihm alles andere als ein «böses Herz» unterstellen. Vielmehr war er einerseits ein geselliger und beliebter Freund; andererseits ein enttäuschter, gekränkter, sensibler und melancholischer Zeitgenosse. Trotz seinen Erfolgen blieb Busch eher bescheiden. Er mochte es gar nicht, wenn in seiner Gegenwart lustige Verse von ihm zitiert wurden. Als sich dies die Tochter eines Freundes erlaubte, soll er grimmig geschaut und zu ihr gesagt haben: «Lesen Sie meine ‹Kritik des Herzens›. Darin lernen Sie mich kennen, nicht in den anderen Sachen.»
Melancholische Sehnsucht
Das Liebesglück mit einer Frau fand Wilhelm Busch auch in seinen letzten Jahrzehnten nicht. Die früheren Enttäuschungen liessen ihn auf Distanz gehen, wohl um weiteren Seelenschmerz zu vermeiden. Passend dazu einige Verse aus einem Gedicht, das er vier Jahre vor seinem Tod publizierte: «Wer einsam ist, der hat es gut, / weil keiner da, der ihm was tut. / [. . .] Er kennt kein weibliches Verbot, / drum raucht und dampft er wie ein Schlot.»
Je älter Wilhelm Busch wurde, desto mehr verkroch er sich in der Provinz. Zum völlig allein lebenden Eremiten wurde der Eigenbrötler Busch allerdings nie. 1898 war er mit seiner inzwischen verwitweten Schwester nach Mechtshausen am Harz gezogen, in den Haushalt seines Neffen mit drei kleinen Kindern. Laut eigenen Notizen pflegte Busch ein liebevolles Verhältnis zu den Jüngsten – bis er im Januar 1908 im Alter von 75 Jahren starb.
Seine Lyrik dokumentiert, dass sein Herz keineswegs so «böse» war, wie er es sich manchmal einreden wollte. Vielmehr steckt in seinen Versen oft eine tiefe Melancholie – und eine Sehnsucht, die auch schon aus einem Gedicht der «Kritik des Herzens» spricht:
Ferne Berge seh ich glühen!
Unruhvoller Wandersinn!
Morgen will ich weiterziehen,
Weiss der Teufel, wohin!
Ja, ich will mich nur bereiten,
Will – was hält mich nur zurück?
Nichts wie dumme Kleinigkeiten!
Zum Exempel, dein Blick!